Zwischen Glasnost und Drohgebärden

■ Moskaus Haltung gegenüber Pakistan versteift sich angesichts anhaltender Waffenlieferungen an die Rebellen / Erstmals sowjetische Verlustzahlen in Afghanistan veröffentlicht / Rote Armee überläßt der afghanischen Regierung Waffen und Munition

Moskau/Islamabad/Kabul (ap/ afp/dpa/taz) - Am Ende der 45minütigen Hauptnachrichtensendung wurde der sowjetischen Bevölkerung erstmals eine offizielle Bilanz des achtjährigen Afghanistan–Engagements mitgeteilt. 13.310 sowjetische Soldaten sind in den acht Kriegsjahren bis Anfang Mai gefallen, 35.487 wurden verwundet, und 311 gelten als vermißt. Am Donnerstag lüftete Generalstabschef Sergei Achromejew ein weiteres „Spitzengeheimnis“ vor der Presse in Moskau. Bis zum 15.Mai dieses Jahres waren in Moskau 100.300 sowjetische Soldaten stationiert. Moskau hatte bisher stets nur von einem „begrenzten militärischen Kontingent“ gesprochen. Die Bekanntgabe der Verlustzahlen verleitet zu einem makaberen Rechenexempel: In Relation zur Zahl der eingesetzten Truppen waren die Verluste der amerikanischen Streitkräfte in Vietnam etwa gleich hoch. In Südostasien wie in Afghanistan wurde mehr als jeder zehnte Kriegsteilnehmer auf seiten der Großmacht getötet. Seit dem Beginn des Truppenabzugs vor zehn Tagen wurden 9.500 Soldaten und 1.000 Fahrzeuge abgezogen, gab Armeegeneral Lisitschew am Mittwoch bekannt. Der Abzug werde entsprechend den Genfer Abkommen fortgesetzt. Zugleich warnte er die moslemischen Rebellen, sie würden „ent scheidend vernichtet“, falls sie die abziehenden Truppen angreifen. Auch der erste stellvertretende Außenminister Juli Woronzow drohte bei dieser Gelegenheit mit Konsequenzen, falls Pakistan nicht die Stützpunkte der afghanischen Rebellen auflöse, wie dies in Genf vereinbart worden sei. Wenn Pakistan die Abmachung nicht einhalte, werde Moskau „reagieren, wie es die Situation verlangt“. Falls Islamabad seine Haltung nicht korrigiere, „könnte es sein, daß wir eine weitere Pressekonferenz wie diese einberufen, um mitzuteilen, wie wir reagieren werden“, sagte Woronzow. Innerhalb weniger Tage protestierte die afghanische Regierung bereits das vierte Mal bei UNO–Beobachtern gegen Waffenlieferungen und Munitionsnachschub, die den Rebellen von pakistanischem Gebiet aus zugegangen seien. Außerdem seien ausländische Militärberater nach Afghanistan eingedrungen, wo sie die „Extremisten“ in die Handhabung von Waffen einwiesen, hieß es laut TASS. Von Diplomaten in der pakistanischen Hauptstadt war am Mittwoch dagegen zu erfahren, daß Moskau seine Waffenlieferungen an die afghanische Armee vor dem Hintergrund der jüngsten militärischen Erfolge der Mudjahedin verstärkt hat. Geliefert wurden neben Raketen größerer Reichweite auch Munition im Gegenwert von rund einer Milliarde US– Dollar, die von der Roten Armee in Afghanistan zurückgelassen werden, hieß es in Islamabad. Trotz der Feststellung, daß der sowjetische Rückzug aus Afghanistan planmäßig verlaufe, bekräftigte das US– Außenministerium denn auch die Haltung der US–Regierung, die Hilfe für den Widerstand solange fortzusetzen, wie die UDSSR der Regierung in Kabul Militärhilfe zukommen läßt. Anfang Juni will der afghanische Präsident Nadjibullah zum ersten Mal in die USA reisen, um in New York am Sitz der vereinten Nationen an der UN–Abrüstungskonferenz teilzunehmen. In Kabul wird im Laufe der kommenden Woche die Ernennung einer neuen afghanischen Regierung erwartet. Trotz der zu erwartenden Vergabe mehrerer Ministerämter an parteilose Vertreter werden die Schlüsselpositionen auch weiterhin von der regierenden Demokratischen Volkspartei kontrolliert werden. Gegenüber indischen Journalisten hatte Nadjibullah vor einer Woche erklärt, er sei bereit, das Machtmonopol aufzugeben, nicht jedoch die Macht an sich. Alle Versuche, Teile der afghanischen Rebellen zum Eintritt in eine Regierung der nationalen Versöhnung zu bewegen, sind bisher erfolglos geblieben. Und für den Ex–König Zahir Shah sieht Nadjibullah keinen Platz mehr. Während der Revolution hätten sich die afghanischen Kräfte in zwei Lager gespalten; es gebe keine mögliche Kraft außerhalb dieser Polarisierung. sl