Der Kongreß träumt einen Traum von Europa

■ Seit Mittwoch tagt in Berlin ein internationaler Schriftstellerkongreß unter dem Motto „Schriftsteller laden Schriftsteller“ ein, um sich über das Thema „Europa“ mal feuilletonistisch, mal analytisch auszusprechen

Aus Berlin Gabriele Riedle

Gesucht: Ein Phantom, von dem noch nicht einmal die Umrisse auf der Landkarte ganz genau bekannt sind. Doch 47 unbeugsame Schriftsteller haben sich aufgemacht, dieses Phantom, wenn nicht zu finden, dann wenigstens zu halluzinieren. So träumt der Internationale Schriftstellerkongreß, „Einen Traum von Europa“ seit gestern in der Berliner Kongreßhalle in senatsunterstützter Autonomie nach dem Motto „Schriftsteller laden Schriftsteller ein“ und wird wohl erst nach der Abschlußveranstaltung am Sonntag wieder erwachen. Nachdem die Rettung durch Che und Mao mitsamt Weltrevolution ausgeblieben ist, wie Peter Schneider (neben Hans Christoph Buch einer der geistigen Väter des Kongresses) erkannt hat, fehlen die Diskussionsthemen. So wählte man sich im Berliner Kulturstadtjahr die Europa–Debatte, zu der jeder, unabhängig von politischen Positionen und intellektueller Luzidität beitragen zu können meint. Die sechs einführenden Vorträge am Mittwoch vor schreibenden Kollegen und schweigendem Volk fielen deshalb entsprechend unterschiedlich aus und bewegten sich zwischen SPD–Strategiedebatte, Feuilleton und sozio–historischer Analyse. So erkannte die Vorsitzende des Verbandes der Schriftsteller, Anna Jonas, daß die Grenzen überwunden werden müßten und zwar manchmal auch von den Wörtern selbst, was sie dazu veranlaßte, gleich ein passendes zu erfinden, nämlich den „Diagonalog“. Peter Schneider, der seine Geistesblitze mittler weile von der SPD zu beziehen scheint, forderte den „freien Wettkampf der konkurrierenden Gesellschaftssysteme“, und beschwor im flotten Marsch von Giordano Bruno zu Rosa Luxemburg die Tradition der „Kultur des Zweifels“. Kühn konterte der Triestiner Neo–Habsburger Claudio Magris mit dem „europäischen Kaffeehaus“, zwischen dessen Tischen es zaudern und zögern möge. Der Niederländer Harry Mulisch exponierte indessen seine multinationale Familiengeschichte seit seinen Urgroßeltern, weshalb nur Europa als Ganzes sein Vaterland sein könne und die Kriege in Europa als Bür gerkriege betrachtet werden sollten. Er forderte, daß die Mauer deshalb immer breiter werden müßte, vom Atlantik bis zum Ural, als Schutzwall gegen die Supermächte. Die Rolle des profilierten Kulturpessimisten spielte vor allem Adolf Muschg, der den Umbau des totalen Europa zur totalen Boutique beklagte. Einzig die hungaro–amerikanische Lukacs– Schülerin Agnes Heller kam in ihrer begriffshistorischen Analyse zu dem Schluß, daß die europäische Identität als Mythos des 19. Jahrhunderts mit der Moderne untrennbar verknüpft ist und sich vor allem über Wohlstand, Wissen und Wachstum definiert, weshalb die „europäische Kultur“ letztlich eine „Kultur ohne Kultur“ sei. Bei der ersten der morgendlichen internen Arbeitssitzungen bewahrheitet sich dann in Hinblick auf so manchen Dichter der lateinische Lehrsatz: „Wenn Du geschrieben hättest, wärst Du Philosoph geblieben!“ So kam die Diskussion über die sechs Vorträge nur zäh in Gang, nachdem György Konrad zuallererst eine bei Rowohlt zu veröffentlichende „Unabhängigkeitserklärung europäischer Schriftsteller“ mit zehn Paragraphen der allgemeinsten Art zu Zensur, Gewaltfreiheit und friedlicher Koexistenz vorgeschlagen hatte, die Claudio Magris am liebsten von „allen Menschen“ unterschrieben haben wollte. Mulisch hingegen möchte lieber Briefe an alle Staatsoberhäupter schreiben: „Dann hat Rowohlt auch ein schönes Buch.“ Und Antonin Liehm bevorzugt einen Offenen Brief an die Kollegen aus der DDR und der UdSSR, damit sie sich äußern, warum sie nicht gekommen sind. Dazu Peter Bichsel: „Diese Vorschläge sind der sofortige Beweis, daß wir nicht miteinandersprechen wollen und nicht miteinander sprechen können. Hier geht es doch nur um die Frage, wie wir aus einer Konferenz eine bedeutende Konferenz machen.“