DOPPELDURCHBRUCH

■ Seji Ozawa und die Berliner Philharmoniker

DER DOPPELTE DURCHBRUCH

Seji Ozawa und die Berliner Philharmoniker

Bei besonders guten Konzerten ist es doppelt schmerzlich, dem Erlebnis sprachlich nicht beizukommen. Schweratmend versucht der Kritiker, an den Krücken der Sprache dem Lauf der Musik zu folgen. Doch immer, wenn er sie an einem Ort dingfest zu machen vermeint, ist sie längst weiter. Musik fließt und entzieht sich meist erfolgreich dem Versuch, sie in die Form des Begriffs zu gießen: ihre fluktuierende Vielschichtigkeit erstarrt zum eindimensionalen Abbild, leblos und falsch.

Das Konzert der Philharmoniker unter Seji Ozawa am Freitag abend gehört zu solchen Glücksfällen, die den Kritiker schweigen machen. Da der Pianist Alexis Weissenbreg abgesagt hatte, blieben uns erfreulichweise Rachmaninoffs 2. Klavierkonzert und das 103. Wiederaufwärmen dieses fettigen Schinkens erspart. An dessen Stelle trat das Konzert für Orchester von Bela Bartok. Bartok schrieb das Stück 1943 im amerikanischen Exil, in das er vor der Besetzung Ungarns durch die Nationalsozialisten fliehen mußte. Er lebte dort schlecht von spärlichen Aufträgen und starb 1945 verarmt in New York.

Sein Konzert ist die musikalische Auseinandersetzung mit seiner Exilsituation. Er führt Stilparodien gegeneinander, die zeichenhaft für geschichtliche Wirklichkeit stehen. Im vierten Satz, dem „interludio interrotto“, beschwört er z.B. die Vision der verlorenen Heimat. Ein demonstrativ überzogenes ungarisches Thema wird immer wieder rüpelhaft von einer Operettenmusik billigster Sorte unterbrochen: die plumpe Gewalt, die Ebene der Nationalsozialisten. Im letzten Satz ringt er sich mühsam zu einem positiven Schluß durch, einem zerrissenen Bekenntnis zur USA. Der „Durchbruch“ zu dieser Position mittels Zitaten aus der Musicalwelt mutet ein wenig gewaltsam an. Was aber sollte einem fremden Mann, der schlecht lebt in einem falschen Land, anderes übrigbleiben?

Zweites Werk des Abends war die 3. Sinfonie F-Dur von Johannes Brahms. Brahms hat sein Geheimnis. Er läßt sich ungern in die Karten schauen. Wenn er sein inneres Es ausdrückt, dann verschlüsselt und vermittelt über eine hochentwickelte Form. Er panzert sich mit klassischer Vollkommenheit und spricht nur aus dieser sicheren Deckung.

Ozawa gelang es, diesen Panzer zu durchbrechen. Er betonte extrem den expressiven Gehalt der melodischen Phrasen und verlieh der distanten Musik Brahms‘ eine direkte Emotionalität, die man bei ihm nicht vermutete. Ozawa brachte den zurückhaltenden Brahms zum Sprechen: dramatisch im ersten Satz, plötzlich abgründig im zweiten, leicht, ganz mozartisch-wienerisch im dritten.

Im vierten Satz nimmt Brahms Anlauf zu einem schwungvollen Happy-End der sinfonischen Handlungen. Der „Durchbruch“ gipfelt in einem Choral. Doch dann torkelt das Thema ziellos über Taktstriche und Metrum, Brahms stammelt und verstummt. Ende. Er verzichtet auf einen gewaltsam durchgesetzten, positiven Schluß.

All das wurde unter Ozawas engagiertem Dirigat wunderbar deutlich. Er gilt hinter vorgehaltener Hand als Kronprinz und möglicher Nachfolger des großen Herbert. Mir soll's recht sein. Das Berliner Publikum hat ihn schon ganz vereinnahmt und verkehrt bereits intim mit Ozawa. Von nun ab darf er auf Familienfeste zu Kaffee und Kuchen kommen.

Ozawa dirigiert in den nächsten Wochen eine Reihe weiterer Konzerte. Zunächst Montag und Dienstag wieder ein Bartok -Werk: das nachgelassene Bratschenkonzert. Vielleicht gibt es für den Dienstag noch Karten: und zwar bei allen Bezirksämtern, Abteilung Jugend und Familie für ganze acht Mark! Motto: „Förderung junger Musiker und Zuhörer“. Na dann!Wolfgang Böhmer