WAHNSINNIGES STAUNEN

■ Fünfzehn Künstler aus Stetten im Rathaus Schöneberg

WAHNSINNIGES STAUNEN

Fünfzehn Künstler aus Stetten im Rathaus Schöneberg

Kleines Gekringel und Gewimmel ballt sich an den Bildrändern über dem bewegten blauen Grund. Die Zeichen erscheinen in ihrer Dichte unleserlich geworden. Die Kringel scheinen wie in ständiger Metamorphose begriffene Zellen über dem tiefen Blau. Plötzlich entdeckt man in ihnen Figuren. In Lore Böhmes Bild tobt eine versteckte Lebendigkeit.

Ursula Laube beschreibt ihre Bilder. Leuchtende Buchstaben -Ketten ziehen sich über das Bild. Die Zeilen, die oben gerade verlaufen, stürzen unten in Wellenlinien ab wie bei kindlichen Schreibübungen. In den Bildbriefen tanzen die Buchstaben unabhängig von der Zusammensetzung zu Worten. Ihre Botschaft liegt nicht in den zufällig entstehenden Verbindungen wie PLUAT, APDL oder Moinz, sondern in dem farbenfrohen und energiegeladenen Akt des Schreibens und Mitteilens, der keine Ecke des Blattes freiläßt.

1980 hat Roland Wagner eine Serie von Bildern gemalt, als würde er die Farben, die Malerei und die Möglichkeiten der Gestaltung gerade entdecken. Er beginnt mit einer vollständig schwarzen Fläche aus Wachsfarbe, die poliert glänzt. Auf dem dritten Bild füllt ein dickes schwarzes Männchen mit einem unheimlichen Grinsen die rote Fläche fast bis zum Platzen. Rot und Schwarz, geballte Vitalität und diabolische Drohung. In den nächsten Bildern differenzieren sich die Farben, Orange, Blau und Grün tauchen auf und die grimassierenden Kugelbäuche gewinnen an Details.

Man kann die Bilder der 15 Künstler aus Stetten kaum unvoreingenommen betrachten. Die besondere Geschichte der Maler ist auf großen Schrifttafeln neben ihren Bildern ausgehängt. Sie malten in der Kreativen Werkstatt der Anstalt Stetten, einem christlichen und nach dörflichen Lebensmustern organisierten Gemeinwesen mit Heimen und Ausbildungsstätten, in dem 1.800 geistig behinderte Menschen und 1.250 Mitarbeiter zusammen wohnen. Anne Dore Spellenberg, die die Kreative Werkstatt leitet, beschreibt die Künstler aus großer Nähe und intimer Vertrautheit. Man glaubt schließlich, sie sehr einfach in ihren Bildern zu verstehen: es ist verblüffend einleuchtend, daß Roland Wagner die roten und schwarzen Bilder in einer angespannten und aggressiven Stimmung gemalt hat, zu einer Zeit, da er an einem neuen Arbeitsplatz zuerst verunsichert war; daß seine Bilder freundlicher und farbiger wurden, als er sich der neuen Situation anpaßte und Ausgeglichenheit fand. Oder Jörg Thiel: „Wenn er zeichnet, was ihn beherrscht, wird Jörg Thiel zum Herrn der Dinge.“ Er begleitet seine Zeichnungen mit Selbstgesprächen über die starken Könige und ihre Söhne. Mit kleinen und großen Köpfen, kleinen und großen Männern in Häusern, Kreuzen und Särgen bedeckt er seine Blätter und entwirft unendliche Genealogien patriarchaler Macht.

Georg Würz malte früher seine Freundin Petra bildfüllend, stark, beschützend, wild. Die großen Zähne in ihrem Mund hatten Biß, ihre Haare umwallten sie wie ein Haus und zwischen ihren Brüsten steckte der kleine Georg. Auf einem Bild zwei Jahre später hält Georg Petra auf dem Schoß: „Mit seinen jüngsten Arbeiten zeigt Georg Würz, daß er mehr und mehr auf seine eigene Kraft zurückgreift, daß er wohl auch eine stabilere Identität gefunden hat. Es scheint, als habe sich seine Beziehung zur Frau geändert.“ Jeden Schritt der Normalisierung muß die Kunsttherapeutin als Erfolg verbuchen. Die verminderte Distanz, aus der sie die Veränderungen der Künstler beschreibt, ist zugleich Anzeichen für die Situation, in der sie die Kontrolle ausübt. Die Texte versprachlichen die Sprachlosigkeit und versuchen, faßbar zu machen, was in den verschlossenen Personen vorgeht. In der Therapeutin Wissen über ihre Klienten gehen diese zu bruchlos auf und öffnen sich ohne Widerstände unserem Verständnis. Dies Glätten der Probleme und die Harmonie der Werkstatt-Atmosphäre machen mißtrauisch.

Daß diese Bilder am Schnittpunkt von Therapie und dem Ausdruckswillen der geistig behinderten Menschen entstanden sind, kompliziert ihre Betrachtung. Die Gier, mit denen man in ihnen nach der unverbildeten ursprünglichen Ausdruckskraft sucht, die Wärme und Vitalität der Lebensäußerungen anstaunt, ist nicht frei von zweifelhaftem Voyeurismus.

In diesem Jahrhundert haben sich wiederholt die Künstler des Abendlandes für die Kunst der frühen Geschichte, der Naiven und Primitiven, der Kinder, der psychisch gestörten und geistig behinderten Menschen interessiert im Verlangen nach einer Stärke, Lebendigkeit und Ursprünglichkeit des Ausdrucks jenseits von Konventionen und geschultem Blick. Man will etwas von der Zivilisation Gezähmtes in seiner Wildheit sehen, die abgeschliffenen Zacken rekonstruieren, etwas Verschüttetes herausgraben. Das Ziel der ausgebildeten Künstler, die Überlieferung des Bildermachens abzulegen, zu reduzieren und zu verzichten, erreichen die Künstler aus Stetten von einer anderen Seite aus. Nicht meßbar bleibt, welche Verluste und Verwundungen für sie ihre Position auf der anderen Seite bedeutet.

Die Maler aus Stetten „Künstler“ zu nennen, beinhaltet zum einen eine für sie sehr wichtige Geste der Anerkennung: tatsächlich beeindrucken ihre Bilder ohne Behindertenbonus. Zum anderen aber beschönigt die Benennung den Grad ihrer Autonomie. Die Malerei hilft ihnen, sich in der großen Anstalt Stetten als individuelle Einzelpersonen zu behaupten, und zugleich werden sie über drei Stunden, die sie wöchentlich in der Kreativen Werkstatt malen können, an den dortigen Lebensrhythmus gebunden.Katrin Bettina Müller

Künstler aus Stetten. Menschen mit geistiger Behinderung stellen aus. Rathaus Schöneberg bis 5.6., Di-So 10-18 Uhr, 2. Juni 19 Uhr, Raum 0170 im Rathaus eine Diskussion: „Kunst und Therapie - ein Widerspruch?“