Irgendwie hängt man an dem alten Jelumpe Ein ehemaliger Reichsbahner erinnert sich an die Dornröschen-Jahre des Hamburger Bahnhofs

„Irgendwie hängt man an dem alten Jelumpe“

Ein ehemaliger Reichsbahner erinnert sich an die Dornröschen -Jahre des Hamburger Bahnhofs

Eigentlich hatte er gar nicht mehr mitkommen wollen. schließlich stehen wir doch in einer kleinen Stichstraße, die seitlich vom alten „Verkehrs- und Baumuseum“, besser bekannt als „Hamburger Bahnhof“, vorbeiführt. „Sehen Sie, hier haben sie uns die Scheiben immer zerdeppert“, erklärt der ehemalige Reichsbahner Achim K. und zeigt auf die lange Fensterreihe einer Halle mit eisernen Dachrippen. Seinen Nachnamen will er nicht genannt wissen, denn: „Im Westen gelten wir Reichsbahner immer noch als Dreckskommunisten.“

Die Halle und das Gebäude davor mit seinen zwei Türmen liegen hinter einem hohen Zaun. Der Bahnhof erstrahlt in neuem Glanz, die rekonstruierten Seitenflügel des Empfangsgebäudes sind im Rohbau fertiggestellt. Eine Hinweistafel vor dem Haupteingang verkündet, daß hier der Kultursenator die Regie übernommen hat und das direkt am Kontrollpunkt Invalidenstraße liegende Objekt als Ausstellungshalle verwenden will.

Vor wenigen Jahren noch wäre so etwas undenkbar gewesen. Erst Anfang 1984 bekam der West-Berliner Senat die Nutzungsrechte für das Gelände, das bis dahin von der Ost -Berliner Reichsbahndirektion verwaltet worden war. Diese sorgte auch für das Bewachen und Unterhalten der Gebäude. „Das lag hier alles in einem tiefen Dornröschenschlaf“, sagt mein Gesprächspartner, der bis zur Übergabe mit zehn bis 15 weiteren Kollegen auf dem Bahnhof beschäftigt war und heute in einem West-Berliner Betrieb arbeitet.

Kriegswirren und Plünderungen

Die Reichsbahner mußten nach Kriegsende den halbzerstörten Hamburger Bahnhof so weit sichern, daß er nicht weiter geplündert wurde. 1884 war hier der letzte Zug abgefahren. Seit 1906 befand sich in dem ältesten erhaltenen Bahnhof Berlins das „Verkehrs- und Baumuseum“ mit einer Vielzahl von wertvollen Exponaten. Der ehemalige kaiserliche Salonwagen war bereits in den Kriegswirren spurlos verschwunden, ebenso wie das Modell des Schiffshebewerks Niederfinow, das schließlich in Leningrad wieder auftauchte.

Wenn sie nicht gerade damit beschäftigt sind, die eingeworfenen Scheiben auszuwechseln oder das Dach zu reparieren, kümmerten sich die Eisenbahner um die Ausstellungslokomotiven und Modelle, die den Krieg überstanden hatten. Prachtstücke der Sammlung waren eine Vierzylinder „S-10„-Schnellzuglok, eine „1-A„-Tenderlok und ein offener Personenwagen von 1843.

„Die Maschinen mußten wegen der Feuchtigkeit oft geölt werden. Einmal im Monat wurden sie in Betrieb gesetzt, damit die Ventile elastisch blieben“, erzählt Herr. K.

Viele Instandsetzungsarbeiten mußten improvisiert werden, da Geld fehlte. „Wir haben fast alles selber gemacht: Motoren repariert, die Beleuchtung instandgesetzt, neue Polster auf die Sitze gezogen. Einige Frauen haben die alten Fahnen wieder zusammengenäht. Schrauben und Ersatzteile haben wir oft von Kollegen aus den Ausbesserungswerken bekommen.“

Lästig seien die ständigen Einbruchsversuche gewesen. Da sich die Eisenbahner nicht bewaffnen durften, bewachen vier Schäferhunde den Bahnhof. „Mulmig“ war es vielen, wenn sie in der verwilderten Gleisanlage hinter der Halle patrouillieren mußten.

Zweimal im Jahr britische Visite

Außer den Reichsbahnbeschäftigten durfte kein Deutscher, ob aus Ost oder West, den Bahnhof betreten. Lediglich Vertreter der britischen Schutzmacht kamen bis 1984 jedes halbe Jahr zu einer Besichtigung vorbei, die vorher in Ost-Berlin schriftlich angemeldet werden mußte. Für die Visiten der englischen Offiziere und Botschaftsangehörigen wurde das nur provisorisch hergerichtete Museum auf Hochglanz gebracht. Die Mitarbeiter präsentierten sich in Uniform: „Wir standen alle auf dem Vorplatz neben dem Gefallenendenkmal in Reih‘ und Glied und salutierten militärisch. Die Engländer waren immer sehr angetan von unserem Museum. Besonders imponiert hat ihnen die Sammlung unserer Gleise.“

Sämtliche übrigen Besucher, sogar Kollegen oder Prominente, wurden ohne Ausnahme am Tor abgewiesen. „Weizsäcker war auch mal hier mit seinem Gefolge. Der ist auch nicht reingekommen“, erinnert sich der alte Reichsbahner. Daß der Bahnhof überhaupt in eine vier Jahrzehnte währende Vergessenheit geriet, lag an einigen Versehen. 1945 wurde er der Reichsbahn zugeschlagen, obwohl sich das „Verkehrs- und Baumuseum“ in staatlicher Hand befunden hatte. Als die Westalliierten acht Jahre später in ihren Sektoren die „Verwaltung des ehemaligen Reichsbahnvermögens“ installierten, die das sogenannte schienenunabhängige Vermögen, also Mietswohnungen und Bahnhofskioske, übernahm, wurde der Museumsbahnhof wieder vergessen. Er blieb weiterhin in Ost-Hand.

Von der Übergabe aus dem TV erfahren

Als der Hamburger Bahnhof 1984 zusammen mit der S-Bahn unter die Kuratel des West-Berliner Senates gelangte, erfuhren die Mitarbeiter davon aus dem Fernsehen. Sie verloren zwar nicht ihren Job, büßten aber Privilegien ein, wie die billige Behandlung in der Reichsbahn-Poliklinik am Halleschen Tor. Der Großteil der gut gehegten und geölten Lokomotiven und Exponate gelangte inzwischen in das Kreuzberger Museum für Verkehr und Technik; der Bahnhof ist bis auf wenige Restbestände leergeräumt für die Restaurierung.

Der Ex-Reichsbahner wird auf einmal wehmütig, als er einen letzten Blick auf die renovierte Fassade wirft. „Hoffentlich kann ich die ganzen Sachen alle noch einmal sehen. Irgendwie hängt man doch an diesem alten Jelumpe.„Christian Böhmer