Alle Jungtiere gehen zugrunde Sven Tougaard, Meeresbiologe in Esbjerg (Dänemark) über das Sterben der Seehunde / Die gesamte Population ist zunächst nicht bedroht / Vorschädigung durch Umweltgifte als vermutete Ursache der Virus-Epidemie

I N T E R V I E W

„Alle Jungtiere gehen zugrunde“

Sven Tougaard, Meeresbiologe in Esbjerg (Dänemark) über das Sterben der Seehunde / „Die gesamte Population

ist zunächst nicht bedroht“ / Vorschädigung durch

Umweltgifte als vermutete Ursache der Virus-Epidemie

taz: Wieviele tote Seehunde haben sie inzwischen gezählt?

Sven Tougaard: In Dänemark sind es inzwischen rund 300, davon 39 im Wattenmeer. Die toten Tiere aus dem Wattenmeer werden hierher in unser Fischereimuseum gebracht. Wir haben jetzt zehn Tiere obduziert.

Mit welchem Ergebnis? Woran sind die Seehunde gestorben?

Die Seehunde sterben ähnlich wie im Kattegat an einer Lungenentzündung. Wir vermuten, daß eine Virusinfektion die Tiere angesteckt hat. Es ist wie bei einer Influenza bei Menschen, die Schwache und Alte befällt.

Was sagen Sie zu der Behauptung, daß das Immunsystem der Seehunde durch den ständigen Giftstreß schon soweit vorgeschädigt ist, daß die Abwehrkräfte für diese Virusepidemie nicht mehr vorhanden sind und die Tiere deshalb zugrunde gehen?

Das ist eine Theorie, die wir in den nächsten Monaten untersuchen müssen. Vielleicht ist es so, aber es gibt dafür noch keinen wissenschaftlichen Beweis. Wir können annehmen, daß es so ist, aber es ist noch nicht sicher. Bei den Tieren, die wir untersucht haben, haben wir das übliche Maß an Umweltgiften festgestellt. Es war aber nicht höher als in den Vorjahren und nicht höher als erwartet.

Welche Rolle spielt das Wetter bei dieser Epidemie?

Durch den milden Winter ohne Eis haben natürlich viele schwache Tiere überlebt, die sonst gestorben wären. Es ist auffällig, daß vorwiegend die schwachen Jungtiere betroffen sind. Mehr als die Hälfte der verendeten Seehunde sind einjährige Jungtiere.

Ist durch diese Epidemie die gesamte Population bedroht?

Die Population als ganzes ist zunächst nicht bedroht. Es gibt ja rund 5.000 Seehunde in Dänemark. Wir hoffen natürlich, daß die Epidemie bald zu einem Ende kommt. Wenn sie sich länger als ein Jahr fortsetzt, wird es allerdings kritisch. Jetzt sieht es so aus, daß der gesamte Jahrgang an Jungtieren zugrunde geht. Wir haben allerdings auch einige kranke Alttiere gefunden und es gab Frühgeburten von tragenden Seehund-Müttern, die Fieber hatten. Aber wir hoffen, daß die Epidemie nach einem Monat zurückgeht.

Wann wurden die ersten toten Tiere entdeckt?

Am 19. April. In den Kattegat-Gewässern haben wir drei Wochen lang die Epidemie beobachtet, dann kam sie auch ins Wattenmeer.

Glauben Sie, daß der Höhepunkt dieses Seehunde-Sterbens schon überschritten ist?

Im Kattegat ist die Kurve abgeflacht, aber im Wattenmeer steigt sie weiter an. Hier gibt es einfach eine zeitliche Verschiebung der beiden Kurven.

Was ist jetzt zu tun?

Wir brauchen eine strenge Überwachung des Seehund-Bestands. Wir müssen sie genau beobachten, ihren Gesundheitszustand feststellen, und wir brauchen ein Forschungsprogramm, um die Umweltbelastung für die Seehunde zu untersuchen. Seit 1980 ist hier nichts mehr passiert.

Hat es ein Seehund-Sterben in diesen Ausmaßen schon einmal gegeben?

In dänischen Gewässern hat es das niemals zuvor gegeben. Es gab in Kanada ein Sterben von Seelöwen und es gab einen ähnlichen Fall in der Antarktis. Aber bei uns nicht.Interview: Manfred Kriener