Politiker reden - Algen wandern

■ Allgemeine Hilflosigkeit gegenüber der ungebremsten Katastrophe an Nord- und Ostsee

Politiker reden - Algen wandern

Allgemeine Hilflosigkeit gegenüber der ungebremsten

Katastrophe an Nord- und Ostsee

Die Killeralgen vor der norwegischen Küste wuchern weiter. Mit der Geschwindigkeit von 25 Kilometern pro Tag zieht der todbringende Gürtel die Küste entlang. Ganz Norwegen verfolgt gebannt die „Rache des Meeres“. Während die Algen wandern und Seehunde sterben, übertreffen sich bundesdeutsche Politiker mit ihren umweltpolitischen Lippenbekenntnissen. An vorderster Front: Töpfer. Er bekämpft die Algen mit einer Sonderkonferenz der Anliegerstaaten. Sein Parteifreund, Staatssekretär von Geldern (Bundeslandwirtschaftsministerium), will die Schnelle Eingreiftruppe Nordsee.

Bergen (taz) - „Hier kommt nur rein, wer Antworten hat. Fragen haben wir selber genug.“ Kategorisch wimmelt die Sekretärin im Bergener Meeresforschungsinstitut alle Journalisten ab. Wer von den Forschern nicht in einer der hektischen Krisenstabssitzungen hockt, observiert die Situation vor der norwegischen Westküste von Schiffen oder Flugzeugen aus. Soviel aber hat der zuständige Abteilungsleiter Snorre Tilseth einer Lokalzeitung schonmal verraten: „Das ist die größte Umweltkatastrophe der Welt.“

Eine Frage der Perspektive. Zweifellos aber hat Skandinavien ein Fischsterben wie das vor der norwegischen Westküste noch niemals erlebt. Der Schock sitzt tief. War die norwegische Öffentlichkeit in den ersten Tagen noch damit beschäftigt, den wirtschaftlichen Schaden eines toten Meeres auszurechnen, „dämmert den Leuten jetzt, daß sie mit dem Meer noch viel mehr verbindet als der Fischfang“, sagt mir ein Student vor dem Institut. Das Meer, seine Tiere und seine Freizeitmöglichkeiten seien immer noch eng mit der norwegischen Identität verknüpft. Die Aussichten, nicht mehr angeln zu können oder zwischen verrottetem Fisch zu baden, geben neben dem drohenden Verlust von Hunderten von Arbeitsplätzen in der Fischerei und in der Aqua-Kultur den meisten Gesprächsstoff. Gleichzeitig kippen die Norweger selber unbekümmert Gifte in ihre Gewässer hinein. Reaktionen auf solche Vorhaltungen lassen sich so beschreiben: „Es ist schlimm, daß wir hier ein paar tote Fjorde haben, aber wir haben noch 400 andere, saubere Fjorde. Außerdem ist unsere Küste 2.000 Kilometer lang, und wir bewohnen nur fünf Prozent unseres Landes, der Rest ist Natur - die zu versauen, schaffen wir auch beim besten Willen nicht. Aber so weit wie das hier hätten wir es nicht kommen lassen. Das kommt woanders her, dagegen können wir nichts machen.“

Teilungsprinzip

2, 4, 8, 16, 32....

Die giftigen Algen mit dem Namen „Chrysochromulina polylepis“ töten nun schon seit zehn Tagen alles Unterwasserleben in Küstennähe. Ein Ende ist nicht abzusehen. Sie vermehren sich unter den für sie weiterhin günstigen Bedingungen (warmes Wasser, viel Licht) rasend schnell nach dem geometrischen Teilungsprinzip eines Einzellers: 4, 8, 16, 32, 128... Sie vergiften - das steht inzwischen fest - bis in 40 Meter Tiefe Seesterne, Krebse, Schnecken, Hummer, Köhler, Schellfische, um nur einige Arten zu nennen. An der 500 Kilometer langen norwegischen Südküste treiben diese Niedrigwasserfische bäuchlings umher.

In den Algenteppichen schwimmt der tote Laich, vor allem von Sprotte und Hering. In manlchen Schärengebieten hat man eine vernichtende Unterwasserfauna vorgefunden. Wie der Osloer Zoologe Semb-Johanssen fürchtet, werden auch die Seevögel bald folgen, weil sie von den Fischen aus niedrigen Gewässern abhängen. Da die ganze Nahrungskette unterbrochen ist, bleibt fraglich, ob in diese Gebiete überhaupt wieder Tiere zurückkommen werden.

Ständig treiben neue Algenteppiche von der dänischen Küste in das Skagerrak-Becken, mal aus dem Kattegat, mal von der jüttländischen Westküste. Im Kattegat werden sie durch die baltischen Strömungen aus der Ostsee mit Phospor versorgt, vor Jütland liegen sie auf dem Weg der nahrhaften Industriegifte aus England und der norddeutschen Bucht. Beide Strömungswege führen in das Skagerrak-Becken hinein und aus ihm heraus führt nur der Weg nordwärts entlang der norwegischen Küste.

Das können die Norweger täglich an den „Algenvorhersagen“ im Fernsehen und in den Zeitungen verfolgen. Die „Algenfront“, wie sie genannt wird, legt 25 Kilometer am Tag zurück, bald hat sie Bergen erreicht. Die Fischer, Fischfarmer, Wissenschaftler und Politiker möchten den Kampf gerne aufnehmen, wissen aber nicht wie. Hilflos irren 80 Fischfarmer ihre Aufzuchtbecken hinter sich herziehend in den Schärengärten umher. Hilflos geben Wissenschaftler die Schadensprognose für den nächsten Tag bekannt, mahnen Politiker zur Umkehr, stehen die Zeitungsmacher vor der bunten Palette apokalyptischer Aufmachertitel für ihre Sonderseiten: „Alles tot“, „Riesen-Öko-Katastrophe“, „Wenn das Meer stirbt“. Doch teilnehmen am „Kampf“ ist alles. So erklärt sich die giftig vorgebrachte Frage eines Fernsehreporters an Ministerpräsidentin Brundtland: „Warum haben Sie noch nicht die Algenfront besucht?“

Rund um Bergen bangt man im Augenblick besonders um die riesigen Lachsschwärme (eine Art Nationaltier in Westnorwegen), die vom offenen Meer auf die Küste zusteuern, um flußaufwärts zu laichen. Sie orientieren sich dabei entlang der Wasseroberfläche an dem Geruch „ihres“ Flusses. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder schwimmen die Laiche direkt in die tödlichen Algen an der Wasseroberfläche hinein und verenden, oder sie tauchen rechtzeitig vor der Gefahr in tiefere Gewässer ab. Aber finden sie dann noch ohne Geruchsorientierung zu „ihrem“ Fluß? Eine Frage, die die Menschen hier in Spannung hält. Die Zeitungen werden in den nächsten Tagen über das Schicksal des Lachszugs berichten. Schaffen es „ihre“ Lachse, heil unter dem Algengürtel zu den Laichplätzen zu kommen, werden die Bergenser stolz sein und dankbar. Vielleicht sogar so dankbar, daß sie die Kloake ihres Regionalkrankenhauses mit 1.500 Patienten fortan nicht mehr ungeklärt in den Stadtfjord leiten.Gunnar Köhne