Missionar (be)sucht das Reich des Bösen

■ Reagan trat vor allem als Botschafter für Marktwirtschaft und Menschenrechte - in der Sowjetunion - auf

Missionar (be)sucht das Reich des Bösen

Reagan trat vor allem als Botschafter für Marktwirtschaft

und Menschenrechte - in der Sowjetunion - auf

Das mit dem Reich des Bösen, so beteuerte Ronald Reagan in Moskau, sei doch auf die Zeit vor Gorbatschow gemünzt gewesen. Nun sehe er die Sowjetunion ganz anders. Trotzdem wirkte der US-Präsident mit seiner Menschenrechtskampagne, als befinde er sich in der Breschnew-Ära.

Moskau (taz) -Wie der Präsident denn geschlafen habe und ob er vielleicht beim Erklimmen der Treppe der Lommonossow -Universität aus der Puste gekommen sei? Kaum eine Frage ist dem Pulk US-amerikanischer Berichterstatter zu dumm, um das heimische Publikum mit personal news vom Gipfel zu versorgen. Erstaunlich aufmüpfig präsentierte sich dagegen ein Teil der sowjetischen Studenten der berühmtesten Moskauer Universität, denen Reagan am Dienstag nachmittag die Freiheit, die er meint, zum Besten gab. Unter einer riesigen Lenin-Büste und eingerahmt von einem Wandgemälde der Russischen Revolution, zog Reagan für die Freiheit und Menschenwürde in der Sowjetunion zu Felde. Gegen die Revolution der Bolschewiki pries Reagan die unblutige Revolution im Zeichen des Mikro-Chip. Eine Revolution, die leicht unterschätzt werde, da nicht von Fahnen und Fanfaren begleitet.

Mit dem ihm eigenen Geschick, seine Wahrheiten unter die Leute zu bringen, kommt Reagan auch in der Lomonossow -Universität vom technischen Fortschritt in gerader Linie zu den Menschenrechten. Der Schlüssel für die Revolution durch den Mikro-Chip ist für ihn „die Freiheit - Freiheit des Gedankens, Freiheit der Information, Freiheit der Kommunikation“. Was aber für die 'New York Times‘ ein Höhepunkt des Redners Ronald Reagan war, schien bei den sowjetischen Studenten nicht zu verfangen.

Gleich eine der ersten Fragen aus dem Auditorium galt den Rechten der amerikanischen Indianer. Warum er die nach Moskau angereiste Indianer-Delegation nicht empfangen habe, wenn er doch dauernd von Menschenrechten rede? Reagan gab sich ahnungslos, von einer Delegation wisse er nichts... um dann gleich ins Fettnäpfen zu treten: Washington habe in der Vergangenheit vielleicht einen Fehler gemacht, als es den Indianern Millionen Hektar für Reservate überließ, in denen heute Öl gefunden würde, sinnierte er in völliger Verkennung der Fragestellung. Wütende Reaktionen der Organisation nordamerikanischer Indianer auf die Ignoranz „ihres“ Präsidenten waren die Folge.

Auch beim zweiten Fragenkomplex zeigte Reagan wenig Fortune. Als ein Student wissen wollte, ob Reagan bekannt sei, daß einer der 40 Dissidenten, die er am Montag in der US-Botschaft empfangen hatte, ein früherer Kollaborateur und Polizeimann der Nazi-Okkupationsmacht gewesen sei, mußte der Besucher passen. Weder er noch einer seiner Übersetzer konnten mit dem deutsch ausgesprochenen Wort „Polizei“ etwas anfangen. Dabei hatte die sowjetische Presse das Thema schon zuvor genüßlich ausgeschlachtet und ein umfangreiches Dossier lanciert, aus dem hervorgeht, daß der Mann Mitarbeiter der deutschen Geheimpolizei gewesen war und deshalb nach dem Krieg 25 Jahre Lagerhaft verbüßt hatte. Selbst Außenamtssprecher Gennadi Gerassimow, der im Duo mit seinem amerikanischen Kollegen Fitzwater die täglichen Pressekonferenzen absolviert, hatte es sich zu diesem Anlaß am Montag nicht verkneifen können, darauf hinzuweisen, daß Reagan ja nun wahrlich nicht die „Blüten unserer Gesellschaft geladen hatte“. Unterschlagen wird in der sowjetischen Öffentlichkeit dagegen, daß zu Reagans Gästen durchaus auch Leute mit ehrenvoller Vergangenheit gehörten. So ein mit Berufsverbot belegter Soziologe, der gegen den Einmarsch in der Tschechoslowakei 1968 protestiert hatte und deswegen sieben Jahre im Arbeitslager und drei Jahre in der Verbannung verbrachte. Der Mann ist ein beredtes Beispiel dafür, daß die noch am Dienstag abend vom hochrangigen sowjetischen Außenpolitiker Arbatow verbreiteten neuen Vorstellungen zur Bewältigung regionaler Konflikte für die „alten Anhänger“ des politischen Dialogs in der Sowjetunion noch keine spürbaren Konsequenzen hat.

Ein Zeichen für einen Dialog außerhalb des offiziellen Rahmens setzte dagegen Außenminister Eduard Schewardnadse. Er empfing eine Delegation der „Frauen für einen gehaltvollen Gipfel“, die unter der Führung der Gattin des griechischen Ministerpräsidenten Papandreou seit Genf zu jedem Gipfel anreisen, weil sie Abrüstungsfragen „nicht nur den Männern überlassen wollen“. Diese international buntgemischte Gruppe, die sich als Netzwerk der Frauen und Friedensbewegung versteht, und von einer Ministerin aus Ghana bis zur Grünen Eva Quistrop reicht, präsentierte Schewardnadse einen Fragenkatalog, der vor allem darauf abzielte, die Verschrottung der im INF-Vertrag gebannten Raketen tatsächlich sicherzustellen.

Meldungen aus den USA, daß das aus den Sprengköpfen der verschrotteten Mittelstreckenraketen gewonnene Plutonium für andere Raketen wiederverwendet werden soll, gibt trotz der gestern vollzogenen feierlichen Übergabe der Ratifizierungsurkunden genügend Anlaß zu entsprechenden Befürchtungen. Und auch die Verhandlungen über die Halbierung der Interkontinentalwaffen - der eigentliche Anlaß für den Gipfel in Moskau - gehen nicht so voran, daß man den Männern beruhigt die Geschäfte überlassen könnte. „Kein großer Durchbruch oder dergleichen“, antwortete Reagan den Journalisten etwas gequält, kurz bevor er zum letzten Gespräch mit Gorbatschow zusammentraf. Viel mehr ist auch aus den beiden Sprechern der Chefs nicht herauszuholen, die im riesigen Kongreßsaal des Armand-Hammer-Zentrums die knapp 2.000 Berichterstatter aus aller Welt bedienen. „Ich bin einverstanden mit meinem Kollegen, daß das zweite Treffen der beiden Führer in einer konstruktiven Atmosphäre stattfand“, bescheinigte Gerasssimow seinem US-Kollegen Fitzwater, der zuvor betont hatte, die Gespräche hätten dazu beigetragen, die Positionen beider Seiten in den Hauptfragen des Dialogs besser zu bestimmen. Über den Stand der Verhandlungen befragt, beschränkte sich Gerassimow darauf, die guten Absichten seines Chefs herauszustreichen. Die UdSSR sei bereit, noch mit der derzeitigen Administration einen START-Vertrag auszuarbeiten und zu unterzeichnen. Meldungen, es gäbe vielleicht noch ein 5. Gipfeltreffen zwischen Gorbatschow und Reagan, mochten die Amerikaner nicht bestätigen.

Offenbar ist die Moskauer Volksmeinung an diesem Punkt bereits weiter. Nachdem Frau Papandreou vor dem Hotel Kosmos eine Statue der griechischen Friedensgöttin Eirene enthüllt hatte, auf der der Spruch des Philosophen Herodot „Niemand ist so dumm, den Krieg vor dem Frieden zu wählen“, eingemeißelt ist, startete eine Moskauer Zeitung eine Blitzumfrage zum Thema Krieg und Frieden. Danach sind von 939 Moskauer Bürgern 96 % der Meinung, ihre Regierung solle möglichst schnell eine Vereinbarung mit den USA treffen.

Immerhin wurde ein kulturelles Austauschprogramm für Studenten, Journalisten, Sprachlehrer und Wissenschaftler vereinbart, das schon im September beginnen soll. Von 200 in diesem Jahr bis hin zu 1.500 im Jahre 1991 werden Studenten Gelegenheit haben, im Laufe einiger Wochen Freundschaften zu schließen, wie sie Reagan und Gorbatschow auf dem Roten Platz jetzt der Öffentlichkeit vorführten: der „Meister des Gesprächs mit dem einfachen Volk“ und der etwas wortkarge Reagan spielten dort Großväter, die um die Zukunft ihrer Enkel besorgt sind.Alice Meyer