Die Nacht ist bühnenreif

■ Wenn die Dunkelheit in den Hinterhöfen in die Fensterhöhlen klettert

Die Nacht ist bühnenreif

Wenn die Dunkelheit in den Hinterhöfen in die Fensterhöhlen klettert

Eine dieser Nächte, in denen man sich nachts ans geöffnete Fenster setzen kann. Nur keinen Plattenspieler laufen lassen. Kein Licht andrehen und nicht nach der Katze treten. Nichts als ein unbeweglicher Körper auf einer Fensterbank sein, der keinen Schatten wirft.

Da ist sie wieder, die alte Frau im Haus gegenüber. Hinter ihrer doppelten Sicherung aus schweren Vorhängen lugt sie durch das Fenster. Einen Moment nur. Noch einmal Kontakt aufnehmen. Mit all dem da draußen. Nichts mehr hat sie mit dem Außen zu tun. Wann kommt sie auch schon einmal herunter? Wohl eher ist sie auf ihrem Geranienbalkon zu sehen.

Genau wie eine ihrer Nachbarinnen, die höchst professionell ihre Betten ausschüttelt - ganztägig und immer. Nie trägt sie etwas anderes als ihren Morgenmantel. Halt, doch - kurze Haare, genau wie ihre viel zu schnell gealterte Tochter. Die beiden sind eine reine Zwangsgemeinschaft. Solche Ähnlichkeit macht verbissene Gesichter. Manchmal brandet ihr Notruf an diese Seite der Straße: „Hören Sie nur, wie laut der da drüben seine Musik schon wieder hat...!“ Ja, so etwas hört sie. Hört sie aber auch die Schreie der blaßen Kinder, die ständig in der Hausmeisterwohnung ihres Blocks verprügelt werden? Fängt sie dann nicht an zu schwitzen und übel zu riechen unter ihrem blauen Morgenmantel?

Bei Hausmeisters sind die Rolläden jetzt geschlossen. Der einzige, der solchen Schutz nötig hat. Doch durch die Rolläden quillt die Erinnerung an die ausdruckslosen Gesichter seiner Kinder und all den hilflosen Klatsch um deren Schicksal. Doch solch heimliches Fluchen dringt nicht einmal in den Innenraum des frischgewaschenen Autos der Hausmeistersfamilie, das jetzt so betont harmlos und akurat eingeparkt auf der Straße steht.

Die andere alte Dame aus der Wohnung schräg gegenüber ist nicht zu sehen. Sonst steht sie doch immer auf dem Balkon, brüllt alle an: die Kinder, den Straßenfeger, die Autofahrer. Zumindest heute abend wird ihre Rolle wohl unbesetzt bleiben.

Bleibt die Hoffnung auf den Mann im Jogginganzug. Der müßte doch um diese Zeit nach Hause schwanken, um kurze Zeit später mit seinen Kötern wieder aufzutauchen. Schwankend nach wie vor - torkelnd gar, voll triefenden Elends, das im aus den Mundwinkeln rinnt. Kein schöner Anblick.

Und wo bleiben die fünf Mark? Vor kurzem lieh sie der nächtliche Betrachter dem Hinkenden, der andächtig und Tag für Tag Bierdosen einsammelt. Volle natürlich. Im Kiosk auf der Ecke holt er sie sich, zusammen mit dem kleinen Flachmann. An besagtem Tag war seine Sozialhilfe einfach nicht rechtzeitig mit der Post gekommen. Also war „Pump“ angesagt. Überlebenshalber.

Eine Silhouette ist vor dem erleuchteten Fenster sichtbar. Jemand hockt dort auf der Fensterbank im vierten Stock und schaut herunter: Eine Frau kämmt sich ihre langen Haare und lacht. Höchst ungewöhnlich, verdächtig gar.

Nur gut, daß gerade eine vollbesetzte Wanne mit Ordnungshütern vorbeifährt. Langsam. Beobachtend. Auf der Pirsch. Die Frau dort oben lacht noch immer. Schamlos.Detlef Berentzen