Unerwartet, unerklärbar

Unerwartet, unerklärbar

Berlin (taz) - Hoffnung auf Überlebende gibt es nicht mehr. Die Explosion in hundert Meter Tiefe war so gewaltig, daß sie noch mehrere oberiridische Gebäude der Schachtanlage Stolzenbach in Borken in Trümmer legte. Die gesamte Frühschicht des Bergwerks, die Hälfte der Belegschaft ist ausgelöscht. Die Katastrophe kam unerwartet. Die Experten bieten Erklärungen an, aber keine Gewißheit.

Der stellvertretende Leiter des Oberbergsamtes Kassel, Wulf Böttcher, erklärte am Unglücksort in Borken, es verdichte sich der Eindruck, daß es sich um eine Braunkohlenstaubexplosion gehandelt habe. Es handele sich nach seinen Informationen um die erste Kohlenstaub-Explosion in einem Braunkohle-Bergwerk überhaupt. Weder aus der Literatur noch aus eigener Erfahrung sei ihm ein solcher Fall bekannt. „Das wäre ein absolutes Novum“, meinte Böttcher.

Kohlenstaubexplosionen können nur entstehen, wenn eine andere Explosion vorausgegangen ist. Es bedürfe einer „erheblichen Zündflamme“, um Kohlenstaub zur Explosion zu bringen, erläuterte Böttcher. Deshalb vermutet er eine vorausgegangene Gasexplosion, die wiederum möglicherweise durch einen elektrischen Funken, einen Kurzschluß oder eine Sprengung ausgelöst worden sei. Danach, so Böttcher, habe eine „regelrechte Kettenreaktion“ eingesetzt. Die meisten der bisher aufgefundenen Bergleute sind qualvoll erstickt, weil der Kohlenmonoxid-Anteil der Luft nach der Explosion sehr stark angestiegen war.

Es bleiben viele Fragen offen. Gasexplosionen, sogenannte „Schlagwetter“ in Bergwerken entstehen durch Entzündung einer brisanten Mischung aus Luft und Methangas, die aller bergmännischen Erfahrung nach wohl in Steinkohle-, nicht aber in Braunkohlebergwerken entsteht. Auch Kohlenstaub entsteht in den tiefen Steinkohlebergwerken mit ihren trockenen Flözen leichter als in Braunkohle-Bergwerken, deren Kohlevorkommen dicht unter der Erdoberfläche lagern und einen relativ hohen Feuchtigkeitsgrad aufweisen.

Noch können die Experten nicht sagen, wie im Borkener Bergwerk ein explosives Gasgemisch und eine gefährliche Kohlenstaubkonzentration entstehen konnten. Laut Auskunft der Zentrale der Preußen-Elektra in Hannover sei die Schachtanlage in Borken unter Tage hochmodern gewesen und habe allen Sicherheitsstandards genügt.

Ob es in Stolzenbach wie in den Steinkohlegruben des Ruhrgebiets ständige Gasmessungen und Staubkontrollen gegeben hat, konnte eine Sprecherin des Konzerns gegenüber der taz nicht sagen. Unbekannt ist auch, ob es angesichts der angenommenen Unwahrscheinlichkeit eines derartigen Unglücks überhaupt entsprechende Meßanlagen gegeben hat.

Kurz vor Toresschluß

Die Katastrophe von Borken dürfte die Aussichten für die Erhaltung der Grube kaum verbessert haben. Zum gesamten Komplex gehören zwei Kohlekraftwerke, die von zwei Tagebauen und dem Unglücks-Bergwerk mit Braunkohle beliefert wurden. In den Kraftwerken sind 260 Menschen beschäftigt. 420 arbeiten im Braunkohle- Tagebau. Im Tiefbau waren knapp mehr als 100 Bergleute, davon fast die Hälfte Türken, in zwei Schichten beschäftigt.

Schon heute steht fest, daß die beiden veralteten, nicht entschwefelten Kraftwerke 1993 stillgelegt werden, weil sie die dann in Kraft tretenden Vorschriften über die Entschwefelung von Kohlekraftwerken nicht erfüllen. Eine Nachrüstung ist nicht geplant. Als Ersatz war zeitweise ein Atomkraftwerk im Gespräch. Die Bergleute fordern den Bau eines neuen Kohlekraftwerks.

Der Preußen-Elektra-Konzern hat sich bisher nicht festgelegt. Vieles spricht dafür, daß es in Borken überhaupt kein neues Kraftwerk geben wird und damit auch die beiden Tagebaue stillgelegt werden. Der Strom aus Borken wird angesichts der bestehenden Überkapazitäten nicht gebraucht. Über 800 Arbeitsplätze würden damit vernichtet.

Der Vorstandsvorsitzende der Preußen-Elektra, Hermann Krämer, sprach offen aus, was die Überlebenden des Unglücks in absehbarer Zeit erwartet: „Drei Jahre vor Toresschluß ist das schwerste Unglück passiert, das überhaupt passieren konnte“. marke