Das Leben, kein Traum

■ Volker Brauns Übergangsgesellschaft bei den Mühlheimer Theatertagen

Das Leben, kein Traum

Volker Brauns „Übergangsgesellschaft“ bei den Mühlheimer

Theatertagen

Himmelstürmende Tagträume haben Seltenheitswert erlangt auch in der deutschen Gegenwartsdramatik. Das dokumentierten die „Stücke '88“, mit denen die Mühlheimer Theatertage „die Bilanz eines Jahres deutschsprachigen Theaters“ zogen.

Die Abrechungen überwogen: George Taboris alptraumhafte Farce „Mein Kampf“ von der Nächstenliebe eines Wiener Juden gegenüber dem jungen Hitler, Gaston Salvatores „Stalin“, eine Vision vom Zweikampf, den der Diktator kurz vor seinem Tod mit einem jüdischen Schauspieler inszeniert und Rainald Goetzens „Krieg“, eine Szenencollage über die bundesdeutsche Wirklichkeit.

Dagegen erhob der DDR-Schriftsteller Volker Braun in seiner Komödie „Die Übergangsgesellschaft“ die Suche nach neuen Lebensutopien zum Programm. Die Sehnsucht der „Drei Schwestern“ nach einem sinnvolleren Leben, die Anton Tschechow um die Jahrhundertwende beschrieb, wird hier auf die Gegenwart übertragen. Aus den Tschechowschen Rollen entschlüpfen die Figuren zu Beginn des Stücks wie aus einem Kokon. Aber Lebensüberdruß und Stillstand herrschen nach wie vor'und innere Wandlung hat die Zeit auch nicht bewirken können.

Im Gegenteil, während die Großbürgertöchter in der Provinzstadt des zaristischen Rußland all ihre Hoffnungen noch auf ein konkretes Ziel richten konnten, auf das gesellige, geistreiche Leben in der Metropole Moskau, haben die Fabrikdirektorstöchter ihr Traumziel aus den Augen verloren: Olga geht in ihrem Lehrerinnenberuf auf, Mascha flüchtet vor der Realität in psychosomatische Blindheit, und Irina, deren 26. Geburtstag wie bei Tschechow Anlaß zu einem Treffen im väterlichen „Herrenhaus“ gibt, überläßt sich ihren no-future-Gefühlen.

Das Signal des Bruders animiert die Geburtstagsgesellschaft zur Traumreise ins Unbekannte, Selbstfindungsversuche, die sich jedoch nicht in jenen nimmermüden Selbstumkreisungen verlieren, wie sie Botho Strauß zelebriert hat. Für die weiblichen Protagonisten münden sie in erste konkrete Schritte zu persönlicher Unabhängigkeit.

Das bereits 1982 entstandene Stück, das erst im letzten Jahr auf die Bühne gelangte, kam nicht in der Bremer Uraufführungsfassung nach Mülheim, sondern in einer Inszenierung des Ost-Berliner Maxim-Gorki-Theaters. Volker Brauns Experiment der Grenzüberschreitungen erhielt vor diesem Hintergrund eine besondere Brisanz.

Denn während sich die Frauen im Stück einer konkreten Utopie annähern, können sich die männlichen Figuren in ihren Phantasien nicht von der Fixierung an überkommene Strukturen befreien, Strukturen, die nur zum Teil aus der sozialistischen Vergangenheit stammen.

Vor allem in der Traumreise des Bruders der drei Frauen gewinnen Gewalt und Zynismus die Oberhand. Bei Braun stellt der Bruder zumindest äußerlich nicht die verkrachte Existenz dar, die Tschechow entworfen hat, sondern einen karrierebewußten Nachfolger im väterlichen Betrieb, dessen sadistische Machtinstinkte nun ungebrochen zu Tage treten. Von kleinlichen Disziplinierungs-Schikanen mit Anträgen und Ausweiskontrolle steigert er sich unmittelbar in die Rolle des skrupellosen Rassisten, der die Geburtstagsgesellschaft attackiert. Auch der Pragmatismus, mit dem er zuvor seine profitorientierte Betriebsführung gerechtfertigt hatte - „um den Kapitalismus einzuholen“ -, wird so entlarvt. Nicht zufällig entschlüpfen ihm schon da preußische und nationalsozialistische Durchalteparolen.

„Die Vergangenheit hat die Zukunft überholt“, stellt Olga in Volker Brauns Komödie fest.

Doch Braun sieht die Aufgabe der Literatur nicht nur darin, „wegzureißen, was die Ideologen hingebaut haben“. Dieses Selbstverständnis attackiert er vielmehr in der Figur des Schriftstellers. In seiner Selbstdarstellung kokettiert der in Heiner Müllerschem Sprachduktus mit dem eigenen unglücklichen Bewußtsein (“...meine privilegierten Schuhsohlen tragen einen unglücklichen Wanderer...“), vor dem er in den „embryonalen Zustand“ zurückfliegen möchte. Volker Braun sucht dagegen nach einer „konstruktiven Literatur, die Mut macht, sich produktiv zu verhalten in einer Welt, die ja nicht so bleiben kann, wie sie ist“.Leonore Kampe