Der "kleine Atomkrieg" findet täglich statt

■ Weltkongreß der Ärzte gegen den Atomkrieg in Montreal fordert umfassenden Test-Stopp als Verifikation des INF-Vertrages / Militarisierung der Welt verhindert Gesundheit für alle / Der nächst

Der„kleine Atomkrieg“ findet täglich statt

Weltkongreß der „Ärzte gegen den Atomkrieg“ in Montreal

fordert umfassenden Test-Stopp als „Verifikation“ des INF -Vertrages / Militarisierung der Welt verhindert Gesundheit für alle / Der nächste Kongreß wird nächstes Jahr in

Hiroshima tagen

Aus Montreal Ulrike Pfeil

Hat der INF-Vertrag über den Abbau von Mittelstreckenraketen der Friedensbewegung den Schwung gestohlen? Keine Angst mehr vor dem Atomkrieg? Die Ärzte gegen den Atomkrieg sehen da noch viel zu tun. Auf dem achten Weltkongreß ihrer internationalen Organisation IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War), der am Montag in Montreal zu Ende ging, war das Washingtoner Abkommen allenfalls ein Thema am Rande. Ein Hoffnungsschimmer, ein Schritt in die richtige Richtung und gewiß auch ein Erfolg der „öffentlichen Meinung“ über Atomwaffen, an dem die Organisation der Ärzte allerhand eigenen Anteil hat. Weiter geht die Euphorie nicht, denn die Probe des Abrüstungswillens steht noch aus: Sie heißt nuklearer Teststopp. Die Forderung nach einem umfassenden Testverbot stand nicht nur im Mittelpunkt des Kongresses im eleganten gläsernen Kongresspalast von Montreal, an dem über 2.000 Ärzte aus mehr als 60 Ländern teilnahmen: sie ist auch das Motto einer IPPNW-Kampagne „Cease Fire“ für das Jahr 1988. Ein Teststopp wird dabei gewissermaßen als „Verifikation“ des INF-Vertrags gesehen. Nur er könnte verhindern, daß die Atommächte die zu verschrottenden Raketen alsbald durch neue nukleare Systeme ersetzen.

Einen „Atomkrieg en miniature“ nannte der kanadische Journalist Gwynne Dyer in einer Plenumssitzung die fortgesetzten Atomversuche. Jane Sharp vom schwedischen Rüstungsforschungsinstitut SIPRI lieferte dazu die Statistik: Seit Beginn der Tests im Jahr 1954 wurde im Durchschnitt alle neun Tage eine Versuchsexplosion gezündet. Angesichts der überwiegend erfolglosen Geschichte der Teststopp-Verhandlungen seit dreißig Jahren bezeichnete Sharp es als aussichtslos, auf diplomatischem Weg etwas zu erreichen. Nur ein „öffentlicher Aufschrei“ könne dazu beitragen, den vor allem auf amerikanischer, französischer und britischer Seite fehlenden politischen Willen zu mobilisieren. „Unsere Aufgabe ist es, Unruhe zu stiften,“ sagte Sharp. Das von Michail Gorbatschow 1985 begonnene und bis 1987 verlängerte Test-Moratorium würdigte sie als eine der „großen verpaßten Gelegenheiten„; die unbewegliche Haltung der USA gegenüber diesem Angebot kritisierte sie als einen der „schwärzesten Flecken in der Geschichte der Rüstungskontrolle“.

Auffallend groß war in Montreal die Teilnehmergruppe von Delegierten aus Ländern der „Dritten Welt“. Ihnen war die Reise mit Spenden der Sektionen in den Industrieländern ermöglicht worden. Vor wenigen Jahren war in der Organisation noch darüber diskutiert worden, ob es sinnvoll sei, Mitglieder aus der „Dritten Welt“ aufzunehmen: Es wurde befürchtet, ihre Sonderinteressen könnten den Rahmen sprengen. Inzwischen bekennt sich die IPPNW ausdrücklich zum „globalen Denken“, und die Friedens-Ärzte wollen - so das Motto des Montrealer Kongresses - nichts weniger, als „den Planeten heilen“.

Wie Waffen töten, schon ehe sie eingesetzt werden, war der zweite Themenschwerpunkt des Kongresses: Die renommierte schwedische Friedensforscherin und Diplomatin Inga Thorsson, eine der KandidatInnen für den diesjährigen Friedensnobelpreis, erinnerte daran, daß die laufenden Militärausgaben weltweit derzeit 25mal höher sind als die gesamte offizielle Entwicklungshilfe. Die ÄrztInnen konnten lernen, wie die Militarisierung der Welt ihrem Berufsziel „Gesundheit für alle“ im Wege steht: Auf 43 Menschen weltweit kommt ein Soldat, nur auf 1030 Menschen ein Arzt. Mit den Ausgaben für ein einziges Trident-U-Boot (1,5 Milliarden Dollar) könnte ein weltweites Impfprogramnm für Kinder gegen sechs tödliche Krankheiten fünf Jahre lang finanziert werden, womit einer Million Kindern das Leben gerettet werden könnte. Wie die IPPNW ihrem neuen globalen Anspruch, die Probleme der Welt zu lösen, konkret gerecht werden will, blieb vorerst noch unklar. An ärztliche Austauschprogramme ist gedacht, an enge Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation WHO.

Die IPPNW zählt heute 200.000 Mitglieder in 61 Ländern der Welt: mehr als 7.000 sind es in der Bundesrepublik. Etwa 50 von ihnen waren nach Montreal gekommen. Das enorme politische Ansehen der Ärzte bewies sich auch auf dem Kongreß in Kanada durch die Teilnahme exzellenter und renommierter WissenschaftlerInnen und die friedenswillige Selbstdarstellung eifriger Politiker. Selbstverständlich versäumten weder Michael Dukakis und Jesse Jackson, die beiden amerikanischen Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei, sich neben Ronald Reagan und Gorbatschow unter die Grußadresse einzureihen. Teststopp na klar - mit ihnen sofort.

Schließlich kann sich die IPPNW großer Spendenbereitschaft bei Firmen und Stiftungen erfreuen, auch wenn der Etat unmittelbar nach dem INF-Vertrag knapper wurde und Einsparungen nötig waren. So wurde beispielsweise das europäische Büro in Brüssel geschlossen. Das Tief ist aber angeblich wieder ausgeglichen. Bei kulturellen Benefiz -Veranstaltungen wird geklotzt: So wird z.B. das geplante „Concert for Peace“ in der ersten Juliwoche nicht nur in Westberlin, Dresden, Moskau und London gespielt - über Fernseh- und Rundfunkaufzeichnungen ist auch für die Übertragung in die letzten Winkel der Erde gesorgt. Der Erlös aus solchen Veranstaltungen soll Projekten in der „Dritten Welt“ zugute kommen. Aus Konzertinitiativen der bundesdeutschen IPPNW-Sektion wurden koreanische Opfer der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki unterstützt.

Die IPPNW-„Nachwuchsorganisation“ der MedizinstudentInnen (in der Bundesrepublik etwa 400 Mitglieder) präsentierte sich in Montreal mit einer eigenen Initiative: Einige StudentInnen hatten zuvor auf einer kleinen Insel unter Bedingungen für Überlebenstraining eigene Projekte für das „Überleben des Planeten“ entworfen: Ein internationales Verbindungsbüro für Medizinstudenten existiert bereits bei der Bostoner IPPNW-Zentrale. Geplant ist eine Ausweitung der Kontakte und Austauschmöglichekiten in Ost-West- und Nord -Süd-Richtung.

Die internationale IPPNW-Kongresse sind keine „alternativen“ Veranstaltungen: Die Delegierten tragen Krawatten und gehen abends auf Empfänge. Was die TeilnehmerInnen am meisten fasziniert, ist die Begegnung mit dem sowjetischen Gesundheitsminister, mit dem französischen Admiral, der sich im Ruhestand den „Generälen für den Frieden“ angeschlossen hat, mit dem Arzt aus Backwoods, USA, der als Soldat in Nagasaki war und seither gegen Atomwaffen kämpft, mit dem chinesischen Barfußarzt, mit dem ehemaligen Vietnam-Bomberpiloten, der ausstieg, in die Psychiatrie gesperrt wurde und anschließend Medizin studierte, mit Ärztinnen, die Beruf, Kinder und Friedensbewegung irgendwie unter einen Hut kriegen. Gewiß, letztes Jahr, in Moskau, waren es mehr Leute. „Die Amerikaner“, erklärt Bernard Lown, „haben dafür gespart, um Perstroika zu sehen. Sie sparen jetzt, um zum nächsten Weltkongreß nach Hiroshima zu fahren. Montreal hat eben nicht diese Attraktivität“. Ein bisschen Tourismus war eben auch dabei.

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