Mitterrand wird in letzter Minute nervös

■ Der Staatspräsident griff erstmals in den Wahlkampf ein / Das kaum verschleierte Bündnis zwischen Bürgerlichen und Rechtsradikalen in Marseille gibt dem Wahlkampf ein neues Thema / Die Öffnung zur

Mitterrand wird in letzter Minute nervös

Der Staatspräsident griff erstmals in den Wahlkampf ein /

Das kaum verschleierte Bündnis zwischen Bürgerlichen und

Rechtsradikalen in Marseille gibt dem Wahlkampf ein neues

Thema / Die „Öffnung zur Mitte“ wird von der „Sammlung der Linken“ verdrängt

Aus Paris Georg Blume

Fran?ois Mitterrand scheint sich des Sieges nicht mehr gewiß. „Ich fordere die Franzosen und Französinnen auf, ihre Wahlentscheidung vom 8.Mai zu bestätigen. Ich benötige eine stabile Mehrheit, um zu verwirklichen, was ich vorgeschlagen habe: Soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit und die wirtschaftliche Modernisierung.“ Mit diesem unerwarteten Wahlaufruf zum zweiten Wahlgang der französischen Parlamentswahlen am Sonntag mischte sich der am 8.Mai dieses Jahres wiedergewählte Staatspräsident erstmals in den laufenden Parlamentswahlkampf ein. Der Vorwand für die Aufgabe seiner Neutralität lag auf der Hand: „Es ist meine Pflicht, vor jeder Art wahlpolitischer Interessenkoalition zu warnen“, erklärte Mitterrand im französischen Ministerrat am Mittwoch.

Tags zuvor hatte sich in Marseille in der Tat eine neue „Interessenkoalition“ gebildet. Dort ziehen Rechtsradikale und Bürgerliche gemeinsam in die Wahl am Sonntag. Pünktlich zum Dienstag abend, als die Kandidaten für den zweiten Wahlgang feststehen mußten, zogen sich die bürgerlichen Kandidaten überall dort zurück, wo die Bewerber der Front National nach dem ersten Wahlgang in der besseren Position waren. Umgekehrt taten dies die Rechtsradikalen dort, wo die Bürgerlichen besser abgeschnitten hatten. Was als größter parteipolitischer Skandal seit Vichy anmuten sollte „Lieber Hitler als die Volksfront“, hieß es damals -, wurde von Rechtspolitikern jeglicher Couleur als südfranzösisches Exotikum abgetan. Pierre Mehaignerie, Chef der von den Sozialisten umworbenen Zentrumsgruppierung CDS, sprach vom „individuellen Rückzug“ einiger Kandidaten: „Wenn wir die Front National angreifen, stärken wir sie nur. Man darf sie nicht zum Märtyrer machen.“ Alain Madelain, der es vom rechtsradikalen '68er bis zum Industrieminister unter Chirac gebracht hatte, erinnerte sich offenbar seiner Vergangenheit: „Es ist gut, wenn Marseille eine ausgewogene Parlamentsvertretung hat.“

Auf der Gegenseite haben die Sozialisten nun endlich ein Wahlkampfthema gefunden. „Man teilt nicht die Ideen der Front National, man bekämpft sie“, wettert Sozialistenchef Pierre Mauroy. Währenddessen umwirbt Premierminister Michel Rocard die zahlreichen Nichtwähler von vergangenen Sonntag, die beim zweiten Wahlgang den entscheidenden Ausschlag geben könnten. „Man muß wissen, was man will: Jacques Chirac oder mich“, erklärte Rocard. Nicht mehr von der „Öffnung zur Mitte“, sondern von der „Sammlungsbewegung auf der Linken“ ist bei den Sozialisten nunmehr die Rede. Mit dem Wort Öffnung hätten die Franzosen Cohabitation verstanden, kritisierte Mauroy die eigene Partei. Daß dennnoch weiter von der „ouverture“ die Rede ist, dafür sorgen nun nicht wie bisher die Zentrumspolitiker, sondern Rechtsradikale und Kommunisten. Wer sprach kürzlich noch alles von einer Zentrumspartei nach bundesdeutschem FDP-Muster in Frankreich? Das Zünglein an der Waage in der neuen Nationalversammlung, das können - mit ein bißchen Glück heute nur noch die Kommunisten sein.