"Ist er nun krank oder böse?"

■ Mordprozeß gegen Anwältin Isolde Oechsle-Misfeld geht dem Ende entgegen / Brillantes psychologisches Gutachten erklärt ihre persönliche Verstrickung / Schuldgefühle und Versagensängste waren unerträglich / V

„Ist er nun krank oder böse?“

Mordprozeß gegen Anwältin Isolde Oechsle-Misfeld geht dem

Ende entgegen / Brillantes psychologisches Gutachten erklärt ihre persönliche Verstrickung / Schuldgefühle und

Versagensängste waren unerträglich / „Verschiebung ihrer

eigenen Suizididee“

Aus Hamburg Ute Scheub

Die Angeklagte erlaubt sich kleine neue Freiheiten. Blaß und abgemagert ist sie zwar immer noch, die unter anderem wegen Mordes an einem Staatsanwalt vor dem Hamburger Landgericht stehende Rechtsanwältin Isolde Oechsle-Misfeld. Aber am Mittwoch, dem letzten der bislang 35 Verhandlungstage trägt sie die Haare zum ersten Mal hochgesteckt, um den Hals ein neckisches blaues Tuch; lächelnd begrüßt sie ihre beiden Anwälte. Diese Äußerlichkeiten scheinen keine Banalitäten zu sein, sondern einem Gefühl von Entspanntheit zu entsprechen. Der psychologische Sachverständige Dr. Herbert Maisch, um dessen Gutachten es in den letzten beiden Prozeßtagen ging, ist offenbar nicht unschuldig an diesem veränderten Verhalten. Anscheinend hat er der Angeklagten geholfen, mit sich selbst und ihrer Ehe mit einem psychisch Schwerkranken fertig zu werden, die sich nach Ansicht des Sachverständigen in der kaputten Beziehung der Eheleute Pinzner spiegelte und verdoppelte.

Ihr Mandant Pinzner, der geständige „Killer von St. Pauli“ hatte den Staatsanwalt Wolfgang Bistry, Ehefrau Jutta und zuletzt sich selbst im Hamburger Polizeipräsidium im Juli 1986 erschossen. Daß seine Anwältin von den Suizidplanungen des Ehepaares wußte, Pinzner im Knast mit Drogen und der Tatwaffe versorgte, hat sie bereits zugegeben.

„Ist er nun krank oder böse? Bad oder mad?“ Diese Frage stellen sich nach Meinung eines Kollegen des Gutachters Maisch Partner von psychisch- oder suchtkranken Menschen. Der ständige Wechsel der Kranken zwischen aggressivem und regressivem Verhalten erfordere einen solchen Wechsel auch von den Angehörigen und sei deshalb eine enorme Belastung. Aber, „es scheint so zu sein, daß ein Mensch, der gern hilft, sich auch gern helfen läßt; beide Verhaltensweisen sind verdeckte Herrschaftsansprüche.“ Und: „Auch die Angehörigen Suchtkranker sind oft krank“.

„Ist er nun böse oder ist er krank?“ Hätte sich das Mädchen Isolde Oechsle diese Frage bei seinem Vater bewußt gestellt, wäre ihm womöglich viel erspart geblieben. Als zweites von fünf Kindern wuchs es in einer streng religiösen Familie auf, so berichtet der psychologische Sachverständige. Alles Weltliche, Freunde, Kino, Literatur, sei dort als böse verboten gewesen. Dem magenkranken Vater gegenüber hätten Mutter und Kinder Rücksichtnahme und absoluten Gehorsam schulden müssen. In dieser „Mischung aus Sanatorium und paranoider Festung“ habe das junge Mädchen keine andere Chance gesehen, die Liebe des von ihm angebeteten Vaters zu erringen, als durch „Überanpassung, Leistung, Fürsorglichkeit“. Die spätere Rechtsanwältin habe früh gelernt, nicht zu sein, was sie ist, sondern was sie für andere leistet. Eine „scheinautonome Entwicklung“ habe sie genommen, hinter der sich ein stark negatives Selbstbild verborgen habe.

„Ist er nun böse oder ist er krank?“ Das muß sie sich auch viele Male bei ihrem Ehemann gefragt haben. Seit Jahren schon leidet er an einer schizophrenen Psychose, die sich mit massiver Alkohol- und Tablettensucht verband. Sie habe ihm helfen wollen, von seinen Eltern loszukommen, sagt sie zur Erklärung dieser Verbindung und merkt gar nicht, daß sie damit ihre eigenen Probleme auf ihn verschob. Helfersyndrom. Im Frühjahr 1986, unglücklicherweise genau während der Übernahme des Mandats Pinzner, erleidet ihr Mann einen neuen schweren Rückfall. Ihre Belastung, ihre Schuldgefühle und Versagensängste werden so unerträglich, daß sie sich umbringen und die gemeinsame Wohnung anstecken will.

„Ist er nun böse oder ist er krank?“ Diese Frage taucht auch bei ihrem Mandanten, dem dominanten, herrschsüchtigen, labilen Pinzner wieder auf. Und nur weil sie dann doch letzteres zu erkennen glaubt, erklärt sie sich bereit, ihm Drogen in die Zelle zu schmuggeln. Sie habe sich gegen seine Forderungen nicht wehren können und seine schwache Ehefrau Jutta gegen ungerechte Vorwürfe schützen wollen, formuliert die Angeklagte in ihrer eigenen Einlassung zu Beginn des Prozesses. Damals wollte ihr niemand so recht glauben, aber nun bestätigt der Psychologe: Eine Flucht aus diesem fatalen Viereck, zwei mal zwei Personen, die sich in ihren Rollen gegenseitig spiegeln, wäre ihr wohl fast nicht möglich gewesen. Die Angeklagte habe damals nur noch einen Gedanken gekannt: „Es muß vorbei sein“, und damit ihre eigenen Selbstmordgedanken auf die Eheleute Pinzner verschoben. Bewußt oder unbewußt habe sie Pinzners Ende gewollt, denn in ihm habe sie, wie sie selbst formulierte „das Böse in meinem Mann töten“ und „selbst auch mal Sieger über das Böse sein wollen“.