Mehr Schein als Sein

■ Insekten, die sich alle Mühe geben, was anderes zu sein

Mehr Schein als Sein

Insekten, die sich alle Mühe geben, was anderes zu sein

Ich kann mich noch so aufblasen, trotz akzeptabler Leibesfülle sehe ich doch nie so aus wie ein Luftballon. Bleibt also alles, wie es ist?

Mitnichten, die Ordnung zerfällt, der entropische Prozeß ist nicht erst seit Pynchon unaufhaltsam dabei, auf das totale Chaos zuzusteuern, oder zumindest ist alles im Fluß der Veränderung, auch wenn jeder Tag wie der andere scheint. Daß aber jetzt selbst staatliche Institutionen nicht unerheblich zum Chaos beitragen, ganz vergessen, daß sie es doch sind, die den Schein von Ordnung aufrecht zu erhalten haben - seltsam! Noch sind es nur untergeordnete Stellen, aber wenn das Schule macht...

Genug der Blasiertheiten, zu den banalen Facts: Wer dieser Tage ins Aquarium geht, der kriegt dort „Design“ zu sehen. Also, wenn das jetzt schon originell ist, den Fischen einen Stuhl anzubieten, ich weiß nicht, erinnert doch alles sehr stark an den Frauenspruch mit dem Fahrradfisch. Deplaziert wie das Zeug herumsteht, das Zweckmäßigsein vergißt, nur noch scheint und nicht mehr ist. Bedenklich, aber das, was heutzutage so aus den schrillen Designerköpfen entspringt, braucht ja nicht mal ein Aquarium, wo man es seiner Funktion völlig beraubt, das Zeug sieht auch in der Wohnstube nur aus, zu gebrauchen ist es kaum. Da ist so manches, was nur noch etwas zu sein scheint!

Wer jetzt also die Tierchen im Aquarium ganz vergessen hat, der geht am besten in den Botanischen Garten, ins Gewächshaus, auch dort zeigt man nicht mehr nur rein Pflanzliches, wie es sich eigentlich gehört; dort gibt's jetzt Tierisches zu sehen. Wie gesagt, das Chaos ist unaufhaltsam.

Kaum betritt man das Gewächshaus, fühlt man sich schon wie im Aquarium, eine Verwechslung, hab‘ ich nur geträumt, daß mich die BVG mal wieder so lange warten ließ auf den Bus? Nein, alles scheint in Ordnung, in diesen Aquarien ist nur Grünzeug, aber nebenan, in der Sonderschau gibt's einige Eichenzweige zu sehen, und wenn man nur lange genug guckt, dann sieht man, daß diverse Blätter und Stengel gar keine sind. Insekten sind's, die sich alle Mühe geben, als was anderes zu erscheinen. Eine durch und durch ägrerliche Ausstellung, zuerst ärgert man sich, weil man nichts sieht, dann sieht man es doch, das Tarntier, freut sich kurz ob der Leistung und ärgert sich dann wieder, weil das dumme Tier halt doch nicht gut genug ist, in seiner perfekten Tarnung, die man ja sehen wollte, aber nicht gesehen hätte, wenn... Wie gesagt, das Chaos nimmt unaufhörlich zu, man kann sich ihm nicht entziehen.Jürgen Witte

„Phytomimese-Insekten tarnen sich“, Ausstellung lebender Tiere im Botanischen Garten, Königin-Luise-Str.6-8, 1/33, bis 24.7.88. „Design Art - schwedische Alltagsform zwischen Kunst und Industrie“ im Aquarium des Zoologischen Gartens, noch bis 26.6.