SKULPTURENMUSIK

■ Folianten - ein Novum der Notation

SKULPTURENMUSIK

Folianten - ein Novum der Notation

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründete Kandinsky den Zusammenhang von musikalischem Material und den bildnerischen Mitteln seiner abstrakten Malerei. In seinen theoretischen Schriften formulierte er die Forderung, die Bildende Kunst müsse eine der Musik analoge Ausdruckswelt schaffen, damit der gesamte Organismus des Menschen in Schwingung gerate.

In diesem Kontext prägte er den Begriff des „inneren Klanges“ der künstlerischen Mittel Form und Farbe. Sein Interesse galt dem Phänomen der Synästhesie, der Wechselwirkung der Sinnesorgane, zum Beispiel der möglichen Farbwahrnehmung bei akustischem Reiz. (Dieses Phänomen entdeckte der Osten vor ca. 2.500 Jahren, ist also überhaupt keine besondere Entdeckung - d.S.).

In den Skulpturen von Martin Daske und Farad Syed realisiert sich die Synthese von musikalischem und visuellem Denken auf völlig neuartige Weise. Es handelt sich bei den Skulpturen, die zwei sensorische Sphären aufeinander beziehen, um dreidimensionale Notationen. Sie hießen zum Beispiel „Foliant 12 für Orgel“ oder „Foliant 09+10 für Gitarrenduo“.

Auf einer drehbaren Scheibe als Basis ist die Komposition aus den verschiedensten Materialien aufgebaut: ein Gebilde, das durch Form- und Materialcharakter assoziativ dem zugedachten Instrument entspricht. Die Elemente stehen im Raum wie Zeichen in Beziehung zueinander, stoßen sich ab oder ziehen sich an, verhalten sich wie ein lebendiger Organismus, der durch seine Gegensätze und Spannungszustände in Bewegung und veränderbar scheint.

Verschlungene und verspannte Drähte formieren auf- und absteigende Bewegungsrichtungen, bilden Strukturgefüge, innerhalb dessen Perlen oder andere rundliche Elemente Akzente setzen. Dieses Gefüge befindet sich vor dem Hintergrund einer senkrechten Ebene, auf der das Notensystem oder Tonhöhenspektrum abgebildet ist. Der Musiker kann sich frei innerhalb des vorgegebenen kompositorischen Rahmens bewegen, in dem er durch die Drehbarkeit der Skulptur Positionen und damit Konstellationen festlegt. Die musikalische Umsetzung erfolgt entsprechend der Aneignung und Interpretation der visuellen Struktur und ihrer imaginierten Projektion auf das Notensystem.

Die Folianten, die akustische und visuelle Formen und Farben vereinen, betonen den prozessualen Charakter im Kern ihrer Funktion, indem sie einer Metamorphose unterliegen: der ursprüngliche Ort ihrer Entstehung ist die „immaterielle“ musikalische Vorstellung des Komponisten, die raumgreifend in der Skulptur als materielle Komposition konkret wird, schließlich durch die Umsetzung des Interpreten sich erneut in eine musikalische Form verwandelt.

Auf dem Gebiet der Notation stellen die Folianten von Martin Daske und Farah Syed eine Innovation dar, weil sie als Partitur Möglichkeiten der akustischen Realisierung bieten, die auf anderem Wege nicht erreichbar sind. Bei internationalen Musikfestivals, wo bereits einige Folianten gespielt wurden, zeigte sich, daß weder durch eine Interpretation graphischer Vorlagen noch durch freie Improvisation dem Foliantenspiel vergleichbare akustische Formen erzielt werden. Der Aspekt der Räumlichkeit, der dem Folianten wesentlich ist, eröffnet dem Musiker beim Spiel eine Dimension, die als sinnliche Variante in der musikalischen Realisation erfahrbar wird. Überhaupt trägt die ästhetische Konzeption der Folianten durch die Überwindung des Prinzips der linearen Lesbarkeit zur Entfaltung einer umfassenden Sinnlichkeit und Rezeptivität bei.

Die Folianten sind in der Ausstellung der Künstlerwerkstatt im S-Bahnhof Westend bis 12. Juni zu sehen und zu hören.Judith Martin

Am 11./12.6. findet um jeweils 20 Uhr eine konzertante Aufführung im S-Bahnhof Westend statt. Der Eintritt ist frei.