BEETHOVEN FÜR BREITZEITSPIELER

■ Musikpädagoginnen und das Kunsthandwerk der Fuge im Bethanien

BEETHOVEN FÜR BREITZEITSPIELER

Musikpädagoginnen und das Kunsthandwerk der Fuge im

Bethanien

Wir befinden uns im Künstlerhaus Bethanien in der Musikschule Kreuzberg, Raum 170.

„Halloooo!“ Mit ganz langem 'o‘, ganz Flöte. Frau faßt sich gegenseitig vertraut rubbelnd bei den Schultern. „Hab gehört, du fährst nach Italien?“ - „Hmmm.“ Freundlich engagiert: Wir lieben uns. „Um den Kurs dort zu besuchen?“ „Hmmm.“ Noch engagierter, die Fragerin schon abschneidend, liebevoll. „Und du, du komponierst?“ - „Hmmm.“ Freundlich engagiert nun die andere Seite usw., siehe oben.

Ist der öffentliche Konzertbetrieb männlich dominiert, so wird das musikpädagogische Feld von Frauen beackert. Ihnen ist das Klima dort zu hart, wo Durchsetzung, Exaltiertheit und Promotion gefragt sind. Also treiben sie im Halbschatten des pädagogischen Reservats ihre kreativen Blüten: Stiefmütterchen, mit viel Liebe und Engagement gezogen.

Aber klar, die Kinder sind auch da: Weil wir so frei sind! Warum sollten sie auch nicht mit auf einen klassischen Konzertabend? Nein, sie dürfen auf einer Veranstaltung im grün-liberalen Kulturbiotop ebensowenig fehlen wie die Hunde auf dem Autonomenplenum. Und so plärren sie abwesend, mit eigenem beschäftigt, vor sich hin und machen glücklich in die Hosen: Weil wir so frei sind! Vorne werden derweil Beethovens letzte drei Klaviersonaten gespielt. Aber das stört nicht. Hier knittern lustvoll Plastiktüten, hier zischen Babyflaschen, leergenuckelt vom lieben Kleinen, das gesättigt seinen Spielzeughammer fallen läßt. Als es aus reinem Bewegungsdrang kräht und gegen die beruhigende Gewalt der Mutter aufmüpft, zieht diese - endlich - die rote Karte.

Von nun an stört nur noch die Musik der Jazzdance-Gruppe aus Raum 169. Catherine Framm steckt gerade im großen Variationssatz der E-dur Sonate op. 109. Unter ihren Händen zerfällt die wunderbare Architektur des Satzes wie eine kostbare Vase in tausend Stücke. Selbst leidlich Klavier spielend begreife ich, wie schwer es ist, hier den langen Atem zu haben, den großen Bogen zu schlagen. Tonnenschwer wird Frau Framm von der Schwierigkeit der Sonaten zu Boden gezogen. Doch erst, wenn man sich über die Schwierigkeit erhebt, die Gesetze der Schwerkraft hinter sich läßt, kann etwas wie Interpretation entstehen. So aber zittere ich mit Frau Framm, ob es ihr überhaupt gelingt, die zahlreichen Klippen zu umschiffen. Catherine Framm ist Klavierlehrerin und konzertiert sporadisch. Zu Beethovens Zeit hätte sie zu dem Kreis der ausgezeichneten Dilettantinnen gehört. Mit der explosionsartigen Entwicklung des Virtuosentums exakt um die Zeit der Entstehung der letzten Beethovensonate um 1820 wurden sie jedoch zunehmend ins Wohnzimmer oder in den privaten Salon verbannt. Ich frage mich, warum Frau Framm ausgerechnet mit solch schweren Stücken an die Öffentlichkeit tritt. Ich kann mit Verständnis ihren großen Einsatz und ihren Mut bewundern.

Doch ehrlich gesagt, jenseits aller pädagogischen Emphatie: Hier liegen mangelnde Selbsteinschätzung und Ehrgeiz am falschen Ort vor. Oder Naivität, die an Blindheit grenzt.

Was Frau Framm darbietet, flößt Respekt ein. Respekt, den wir auch dem 72jährigen Rentner Hubert M. zollen, der die 42 km beim Marathon noch unter drei Stunden läuft. Dieser Abend gehört nicht in die Sparte Musikkritik, sondern zum Kollegen vom Breitensport. Er hat mit Kunst soviel zu tun wie die Makrameearbeiten der katholischen Frauenvereinigung St. Martinus für den Weihnachtsbasar. Ihm haftet die tragikomische Ambition dessen an, der mit Streichholzkleberei einen Beethovenfries errichten will.

Gut, den Vorwurf der Arroganz und: Du mißt mit falschem Maßstab! stecke ich ein. Aber bei Beethovens letzten Sonaten hört die Pädagogik auf. Kein Grund, sich zu ärgern: Der Eintritt war frei. Und die Zeitgenossin, die nach Italien fährt, fand es „Wunderbar, ehrlich!“ Folgerichtig zeigte sich Frau Framm bei der letzten Verbeugung mit Kind.Wolfgang Böhmer