DAS LETZTE ABENTEUER

■ Wie der Theaterforscher Ralf Hünninghaus auf Expedition verlorenging

DAS LETZTE ABENTEUER

Wie der Theaterforscher Ralf Hünninghaus auf Expedition

verlorenging

Die Wette galt: Jungredakteurin Riedle hatte Nachwuchsautor rah! eine zweiwöchige Sonderprüfung Off -Theater vorgeschlagen. Jeden Abend ein Theaterstück, auf dem Spiel standen vier Päckchen After Eight und eine Kiste Becks.

Die Tragödie nahm ihren Lauf: Während der ersten Tage erreichten hoffnungsfrohe Anrufe die Redaktion, doch bereits nach wenigen Tagen wurden die Meldungen kürzer, bis schließlich kein weiteres Lebenszeichen des mutigen Forschers in die Redaktionsstube drang. Nach zwei bangen Tagen klingelte endlich das Telefon: In einer Schöneberger Kneipe war der Expeditionsrucksack des Unverzagten gefunden worden. Neben einer halbleeren Falsche Wein, einem zerbrochenen Bleistift und zerknitterten Theaterprogrammen fand man eine Zettelsammlung - das Tagebuch des Draufgängers. Wir veröffentlichen exklusiv Auszüge daraus, auch in der Hoffnung, so eine Spur von ihm zu finden.

29.5. 88

Der erste Tag des Theatermarathons! Zwei Wochen soll er dauern, ich muß mit den Kräften haushalten. Die erste Prüfung soll nicht so schwer sein; ein Ami-Erfolgsstück von Charles Busch in deutscher Erstaufführung klingt harmlos. „Psycho Beach Party„ heißt es, eine Klamotte über ein paar durchgeknallte Typen am Strand. Leichte Kost, kann man nix falsch machen. Komisch war nur, daß man auf Schreiberlingsbesuch im Theater am Ufer gar nicht scharf zu sein schien: Schon am Telefon klang eine Männerstimme eher abwiegelnd, und im Gesicht der Kassenfrau stand fett geschrieben: „Laß es!“

Wie recht sie hatte! Das, was das T.O.P.-Theater präsentiert, hat mit Theater absolut nichts zu tun, und man sollte es auch nicht in einem Theater zeigen. Böse Irreführung. Hoffentlich zählt das trotzdem für die Wertung.

35 Minuten habe ich ausgeharrt und den Abrißbagger im Humor -Sanierungsviertel herumwalzen sehen. Den einzigen Lacher steuerte unfreiwillig ein Fischer-Dieskau bei, der die Musik zum Stück geschrieben hatte (was soll man mit dem Namen auch sonst machen). Dabei ist ihm wohl die humanistische Bildung durchgegangen - so eine absonderlich-behämmerte Jazzrock -Fassung von Surfpunk habe ich noch nie gehört.

Nur noch 13 weitere Vorstellungen. Schlecht geschlafen.

30.5. 88

Der Rückschlag. In einem Stapel Papier entdecke ich das Berliner Dorfblatt, die 'Morgenpost‘, von gestern. Als Aufmacher im Feuilleton haben sie die erste Folge einer „Exklusiv-Serie“ über das Berliner Off-Theater. Ich war doch Erster! Das glaubt mir Frau Riedle nie. „Wieder prima abgeschrieben!“ Ich beschließe, den Rekordversuch aufzugeben und widme mich den Überresten der Party von vor zwei Wochen.

31.5. 88

Gegenüber Freunden halte ich mich bedeckt, referiere ausschweifend über Musik, Fotografie und Parkplätze, sorgsam das heikle Thema meidend. Keiner merkt was.

1.6. 88

F. spricht mich an, was aus meinem Theaterversuch geworden sei, wieso ich zur besten Theaterzeit schon in der Kneipe sitze. Ich berichte von dem Mißgeschick und zeige ihm den Zeitungsausriß. Er liest und lacht. „Unsinn“, sagt er, „der Typ hat doch gar keine Ahnung. Der macht sonst wahrscheinlich die Vorstellung der neuen Automodelle. Lies mal diesen einen Satz durch.“ Ich lese. Das Off-Theater habe „Zeitprobleme dramaturgisch aufgegriffen“, heißt es da und daß „Künstler und Zuschauer ihre Überzeugungen gemeinsam artikulierten“. Wir fallen uns lachend in die Arme, und einige Biere später verspreche ich, zum Wochenende den Rekordversuch wieder aufzunehmen.

3.6. 88

Heute lag die Latte etwas höher: Genet von einer Gruppe mit dem putzigen Namen Theater Westöstlicher Diwan.

Oder: Bei den Zofen pofen (oh, oh, oh) im Transformtheater.

Auch diesmal eigentlich kein Theater, eher eine szenische Lesung. Und voll pathetisch. Zu dem Text über Macht und Unterdrückung, über Wut, Entschlossenheit und Verzweiflung könnte einem eigentlich jede Menge einfallen - mir fielen leider nur die Augen zu. Eine Vorsprech-Inszenierung für Lesefaule.

Die brillanteste schauspielerische Leistung des Abends: Als die Aufführung zu Ende geplätschert war, wußte niemand so recht, ob man (falls überhaupt) jetzt klatscht. In diesem kritischen Moment hob einer der drei „Gnädige Frau„ -Darsteller die Hand und sagte mit einer winzigen Geste: „... schon gut...“ Die Botschaft des Abends: Mut zum Buch!

4.6. 88

Das Tolle an Expeditionen ist - man kommt so viel rum. Selbst im Märkischen Viertel wird Theater gespielt, aber man muß es suchen. Irgendwas stimmte mit der Adresse nicht, am Senftenberger Ring 24 fand ich zwischen den Betonstreben schließlich nur eine komplette Kleinfamilie. Die hatten von Theater noch nie was gehört. Einige Tankfüllungen später ein verzweifelter Versuch, und es glückte. Ein Handwerker, gerade dabei, seinen Hausmüll illegal zu entsorgen, wußte die ungefähre Richtung.

Das Atrium (Zentrum für Jugendtheater) gehört zur örtlichen Infrastruktur, sieht auch genauso aus, riecht auch, wie es zu riechen hat.

Die Mauerschau der Bülow-Bühne lief bereits eine halbe Stunde, aber der Einstieg war furios: witzige Texte, agiler Schauspielernachwuchs und eine Idee! Die Revue wird zusammengehalten durch Szenen aus einer Werbeagentur, in der man gerade die neue Berlin-Werbung entwirft. Der Einfall: nachdem jedes Zipfelchen Kultur in der Stadt verramscht ist und der Senat auf Vorschläge drängt, beschließt man, die Mauer als neue Sehenswürdigkeit zu etablieren, das „bebilderte Tagebuch einer Großstadt“. Fantastisch. Wieso ist da noch niemand drauf gekommen? Großflächig wird das Thema gefeaturet, ein Songwettbewerb, Ausstellungen und Kinderbilder ausgeschrieben. Die Hiebe sind zielsicher, die Werbeschnatzen glaubhaft - und das alles von ein paar Kids unter der Anführung eines Theaterpädagogen (Edgar Wilhelm).

Die Harke kam hier von a) öffentlich-unberechtigter Ausgewogenheit und b) einer Materialschlacht mit den vielen Gerätschaften, die so ein Jugenzentrum im Lauf der Jahre anhäuft und die dann auch mal benützt werden müssen. Die Szenen zwischen den Auftritten der ausgebufften Werbeagentur (Präsident an der Mauer, Chanson, historischer Rückblick mit Dias, Grepos, die Skat spielen etc.) verflachten nach und nach oder erstickten im Brimborium. Dennoch: mindestens 50 Prozent Theater, unterhaltsam, frisch und stellenweise richtig böse. Bravo, Kids. Auf der Heimfahrt goß es aus Kübeln, beim europäischen Volksfest wurde das Feuerwerk und die letzten Idioten naß. Ha! Ha! Ein Klasse-Abend!

5.6. 88

Frisch und ausgeruht das Mehringhof-Theater besucht, Matthias Beltz und Heinrich Pachl. Die Luft im Saal stand. Neben mir saß eine blonde Frau; ich habe sie gefragt, ob sie zur Reisegruppe aus Bottrop gehört. Damit war das Gespräch leider zu Ende, bevor es richtig angefangen hatte. Das Publikum war alles andere als gemischt, eher so eine matschige Masse kurz vor dem sozialkritischen Punkt. Solange es Publikums (Publika? Puddings?) gibt, die bei Spruchblasen wie „eine deutsche Erfindung ... der Bräunungsfaktor 33“ aufheulen, als hätte man ihnen den Kanzler totgeschossen, solange hat das politische Kabarett noch Zukunft. Finanziell betrachtet.

Mehr fällt mir leider nicht ein, weil ich eine halbe Stunde kostbaren Schlaf nachgeholt habe (alptraumfrei). P. hat mich kurz vor der Pause geweckt: er hat gelacht, konnte sich aber später nicht erinnern, wieso. Gemeinsam zogen wir das Resümee des Abends („Gerade linkes Kabarett sollte in Zukunft nur noch pantomimisch vorgetragen werden“) und mehrere Biere ein.

6.6. 88

Auf dem Härteparcous! Heute Teil 2 von Lubowkis „Off -Theater„-Serie in der Mottenpost gelesen. Er wird immer besser: „Denn heute ist Off-Theater ist erster Linie auch Lebensgefühl“ - abgesehen von der Grammatik: Spitze! Und: „... sind es gerade die Off-Theater, die sich mit zeitgenössischen Problemen und Ängsten auseinandersetzen.“ Wow! Das macht Mut! Aber, Lubowski, peinlich war's schon, daß Du vor lauter Schere im Kopf sogar das Statthaus Böcklerpark in „Stadthaus“ umbenannt hast.

Und dann noch das: Dietrich Kittner im Quartier Latin. Seit ich idiotischerweise vom Theatermarathon erzählt habe, entsorgen die Kulturredakteure die ganzen Karten, die keiner haben will, bei mir. Qpferdach hat mir gleich ein ganzes Bündel Billets fürs „Spielplatz„-Festival in die Hand gedrückt, dieser Schinder.

Kittner hat unheimlich viel vorgerechnet, von den Bundesbürgern, die alle zwei Mark für Mercedes Benz bezahlen und dem Volkszählungsamt in Hannover, das die Einwohnerzahl der Stadt auf 1,3 Millionen verrechnet hat. Zahlen tanzten vor meinen Augen und ich mußte an meinen kommunistischen Mathe-Lehrer denken, dem man nur was von SS-20 erzählen brauchte, um die ganze Stunde in Ruhe Zeitung lesen zu können, während er über sowjetische Abrüstungsvorschläge referierte.

Dann hat der steingraue Angeber noch erzählt, wie furchtbar er observiert wird und das war so peinlich, das würde ich mich gar nicht trauen zu schreiben. Schließlich könnte der Mann mein Onkel sein.

7.6. 88

Fantastisch. Qpferdachs Spielplatz-Tickets gelten für die 10-Uhr-Vorstellung. Sadist. Auf der Hinfahrt habe ich beinahe einen fabrikneuen BMW zerschrammt, der hat's mir dann Halogen- und Stinkfingermäßig voll zurückgegeben. „Bad Man's Wagon“ sagen die Engländer zu diesen Mistautos. Richtig.

Das Kinder- und Jugendtheaterfestival findet in der Kongreßhalle statt, ich glaube, die Kinder finden das ganz prima, weil überall noch viel Platz ist für Graffiti und man auf dem glatten Boden toll rutschen kann. Bei der Kleinsten Bühne der Welt saßen schon vier Schulklassen, zwei Fernsehteams und einer von der 'Morgenpost‘ (die erkennt man daran, daß sie immer ganz viel aufschreiben und bescheuerte Fragen stellen). Die beiden Darsteller waren auch ganz aufgeregt, zumal sich die Berliner Gören ständig durch dreiste Kommentare profilierten.

Ich wollte mich beinhart weigern, an diesem Morgen irgendetwas gut zu finden, aber die Show war erste Sahne. Rund um die mikroskopisch kleine Bauchladen-Bühne erzählten die Zwei aufregende Geschichten, Piratenabenteuer, Krieg der Sterne, den „Mittsommernachtstraum“ und was weiß ich. „Orpheus in der Unterwelt“ zum Beispiel: Orpheus und seine Frau sind hartgekochte Eier, die Harfe ein Eierschneider. Eurydike kommt in die Unterwelt, wo die dunklen Schatten durch Eierkohlen dargestellt werden und Zerberus durch eine Salatgabel. Orpheus holt seine Geliebte ab, gemeinsam geht es den Oberarm des Künstlers hinauf, bis Orpheus sich umdreht, naja, den Rest kennt man, bis schließlich Orpheus einen schrecklichen Tod im Eierschneider findet. Das hat fünf Minuten gedauert, und jetzt habe ich das Stück endlich verstanden. Hoffentlich nehmen sie auch noch den „Faust“ ins Programm auf. „Kleinste Bühne der Welt“. Merken. Hervorragend.

Hier müssen wir den Nachdruck leider unterbrechen, da plötzlich die Aufzeichnungen ins infantile Kritzeln abstürzen und außer irrwitzigem Silbengestammel nichts mehr zu entziffern ist. Später wird wieder klarer, aber das für nächsten Samstag (d.Red.).

Die Stücke:

„Psycho Beach Party“ vom 'T.O.P.-Theater‘ noch bis zum 3.7., Di-So, jeweils 20 Uhr.

„Die Zofen“ vom 'Theater Westöstlicher Diwan‘ im Transform -Theater. Do bis So, jeweils 22 Uhr.

„Die Mauerschau“ von der 'Bülow-Bühne‘ im Atrium (Senftenberger Ring 97), nochmal am 13. + 14., 20 Uhr.

„Kleinste Bühne der Welt“ nochmal am 11. (17 Uhr), 12. (19 Uhr), 13. + 14. (10 Uhr) in der Kongreßhalle.