Arme Kinder

■ "Kinder brauchen gutes Fernsehen", ZDF, Donnerstag, 22.10 Uhr und "Preisverleihung des Prix Jeunesse 1988", ZDF, Sonntag, 13.55 Uhr

Arme Kinder

„Kinder brauchen gutes Fernsehen“, ZDF, Donnerstag, 22.10

Uhr

und „Preisverleihung des Prix Jeunesse 1988“, ZDF, Sonntag, 13.55 Uhr

Eine Vorbemerkung: Kämen Sie, liebe/r LeserIn, auf die Idee, daß Schach, das Spiel der Spiele, jugendgefährdend sein könnte? Was aber, wenn man die Damen als „schnell bewegliche Strategieeinheiten mit hohem Wirkungsgrad und großer Kampfstärke“ bezeichnen würde? Sehen Sie, alles ist eine Frage der Definition.

Nun gut, es soll ums Fernsehen gehen, ums gute Fernsehen, um genauer zu sein, und noch genauer: ums gute Fernsehen für Kinder, wie gute Menschen sich das für gute Kinder wünschen.

Von Qulität und wissenschaftlicher Begleitforschung war am Donnerstagabend die Rede, kurz: „Man weiß heute, wie Kinderfernsehen auszusehen hat.“ Sehr beliebt sind Zeichentrickserien, die einfache Vorgänge in Natur und Gesellschaft anschaulich erklären, oder Problemspiele über das zunehmende Unverständnis von Eltern gegenüber ihren Kindern. Dem ZDF-Kinderprogramm gehe es um die „Entwicklung der kindlichen Psyche“, konnte man erfahren, während die ARD „von vornherein auf pädagogische Lernziele verzichtet und auf Unterhaltung setzt“. Wichtig ist schließlich noch „ein anschließendes Angebot an die Kinder, ihre Fernseherlebnisse zu verarbeiten“, aber da sind wir schon bei den Eltern und damit beim Grund allen Übels. „Unser Großer verkraftet manchmal das viele Fernsehen nicht“, beichtete eine adrette Hausfrau, und eine ängstliche Brillenschlange „konnte teilweise dem Kinderprogramm nicht folgen“. Tja, was Erwachsene nicht verstehen, das wird nur selten ignoriert, am liebsten ist ihnen, wenn solches verboten wird.

Natürlich gab es schon immer Leute, die darüber brüteten, ob Gewaltdarstellungen anregend oder abschreckend seien, und in der Regel sitzen sie noch heute über diesem Problem. Um es anders zu sagen: Außer empfindsamen Professorentöchtern oder sensiblen Jüngchen von Studienräten braucht heutzutage kein Kind vor diesem Fernsehen beschützt zu werden. Das Resumee des Donnerstagabends lautete dann auch: „Wir haben ein sehr ordentliches Kinderprogramm in Deutschland, ein Kinderprogramm, das die Familie vereinen soll.“ Das mag für Eltern, die zu dieser Zeit noch vor der Glotze saßen, beruhigend gewesen sein, und den Kids - außer ein paar völlig degenerierten, die in dieser Sendung von „schönen Plüschsofas und Behaglichkeit“ schwärmten - wohl auch völlig egal.

Was Erwachsene und diese ganzen Hobbypädagogen nie begriffen haben und nie begreifen werden: daß Kinderkultur nämlich, also das, was Kinder sich selbst schaffen und dauernd verändern, von den sogenannten Erwachsenen nicht verstanden wird - nicht allein deswegen, weil sie zu alt, zu konservativ, zu reaktionär oder was auch immer wären, um es zu verstehen - sondern deswegen nicht, weil es hauptsächlich aus dem Grund überhaupt da ist, um von ihnen nicht verstanden zu werden.

War es früher die „Flut“ von Comics, die eingedämmt werden mußte (und davor die „Negermusik“), galt in den 70ern das Augenmerk dem Kriegsspielzeug, das aus jedem Plastikgewehrbesitzer gleich einen potentiellen Massenmörder machte. Der Aufmerksamkeit unserer Spielpädagogen, die sich auf dem Gebiet der Brettspiele noch auskannten und zu jedem Holzbauklotz eine Erbauungsschrift ablieferten, verdankten wir etwa einige Regeländerungen des umstrittenen „Risiko„ -Spiels, bei dem es um die Eroberung fremder Länder ging (und das eigentlich nur eine etwas modifizierte Version einer der sinnvollsten Beschäftigungen von Schülern, „Schiffe versenken“, war). Heute ist es der Computer, der am Donnerstagabend allerdings nur kurz erwähnt wurde. (Daß diese Hobbypädagogen in ein paar Jahren für eine Gruppe von hoffnungslosen Analphabeten in der Welt von BASIC verantwortlich sind, wird von ihnen geflissentlich übersehen.) Davor waren und sind es immer noch Horror- und Gewaltvideos. Selbst einfachste Vorurteile mußten in dieser Sendung übers Kinderfernsehen noch widerlegt werden - „daß Kinder anschließend nicht andere Kinder anfallen“, etwa.

Daß gerade linke Eltern vor den schädigenden Auswirkungen von Gewalt in Filmen warnen, ist nur zu verständlich: Schließlich attackiert der durchschnittliche Horrorfilm ja das Herz der Familie; ein durchgeknallter Papi schlachtet die Kinder ab, weil sie ihn bei der Sportschau gestört haben, oder Mutti wurde nicht genug fürs Essen gelobt und macht sich nun mit der Knochenfräse an angeblich harmlosen Kinderköppen zu schaffen. Da haben sie nun jahrelang mit linkem Bewußtsein für eine bessere Welt gekämpft, sich mit schlechtem Gewissen gutbürgerlich eingerichtet, jahrelang den makrobiotischen Fraß runtergewürgt und merken nun langsam, daß ihre Kinder das alles einen Dreck interessiert.

Die Ratschläge dieser nimmermüden Sozialpädagogen sind glücklicherweise immer noch von solcher Verlogenheit, daß bis auf die oben erwähnten degenerierten Exemplare - jedes Kind sie zu durchschauen imstande ist und sich aus der existierenden Kinderkultur, ob Computer oder Hip-Hop, mehr Kraft zur Rebellion holt als aus dem Gesülze seiner Feierabend-Hippie-Eltern. Und Kinder, für die eine Atombombenexplosion nichts anderes ist als die Fortsetzung ihres Chemiebaukastens (früher) oder eines der weitverbreiteten Computerspiele (heute), werden sich hoffentlich einen Dreck um die neue angekündigte ZDF -Nachrichtensendung für Kinder, 'Logo‘, scheren, die unsere Kleinen darauf vorbereiten soll, später mal die Nachrichten der 'Tagesschau‘ zu verstehen. Altkluge Achtjährige, die über hungernde Kinder in Afrika lamentieren - das wäre nun wirklich das Letzte.

Die eigentliche Preisverleihung des 'Prix Jeunesse 1988‘ (einer Stiftung des Bayerischen Rundfunks des Freistaats Bayern, der Landeshauptstadt München und des ZDFs) war eine Versammlung von angegrauten Bartträgern und aufgetakelten Brillenschlangen, die kurz vor Erreichen ihres Lebensalters genau so aussahen wie senile Jugendredakteure und Pädagogikexperten eben aussehen. Außer einem harmlosen Zeichentrickfilm und einem platten Sketch um einen bieder gekleideten Schullehrer wurde ein Film über Kinder in Südafrika prämiert (siehe oben, 'Logo‘) sowie zwei Fernsehfilme über Lust und Frust der ersten Liebe, bei denen die anwesenden „Berufsjugendlichen“ zu fast ekstatischem Beifall ansetzten.

Vielleicht ist das alles ein bißchen „ungerecht“, und sicher ist es nicht die Schuld dieser guten Menschen, daß ich mir damals am liebsten schleimige Ungeheuer in blauen Lagunen und mutierte Ameisen, die Menschen verschlingen, angeguckt habe (und danach nächtelang nicht richtig schlafen konnte) oder „Invasion von der Wega“ sehen wollte und davon träumte, Astronaut zu werden.Torsten Alisch