: SANDKASTENSPIEL
■ Die "Schätze" der Staatsbibliothek im Kammermusiksaal
SANDKASTENSPIEL
Die „Schätze“ der Staatsbibliothek
im Kammermusiksaal
Über die Frage, ob die 35 Takte Klaviermusik von Beethoven sind oder nicht, sollen sich getrost die Experten streiten. Ein belangloses Stückchen Andante, mit einer netten Melodie und Gedudel im Baß, schlimmstenfalls geeignet für Klavierschüler im Anfangsstadium. Wenn die Musikabteilung der Staatsbibliothek das umstrittene Autograph nun stolz der Öffentlichkeit als Beethoven-Original präsentiert, es den Konzertbesuchern gratis als Faksimile überläßt und es einen Solisten vom Format eines David Levine interpretieren läßt, entbehrt das nicht einer gewissen Komik. Musikwissenschaft als Sandkastenspiel.
Überhaupt ist es mit den „Erstaufführungen“ bei den drei Konzerten (vergangenen Donnerstag, Sonntag und heute abend) so eine Sache. Joseph Haydns Divertimento Es-Dur, als ein gediegener Haydn, mehr schlecht als recht musiziert von Mitgliedern des Berliner Opern-Orchesters, wurde schon einmal erstaufgeführt: in Bonn, als Rupert Scholz Verteidigungsminister wurde. Gustav Mahlers Wunderhorn -Lieder sind in der Klavierfassung wahrlich dürftig. Eine magere Skizze, man sehnt sich förmlich nach den Orchesterfarben. Johann Michael Haydns G-Dur-Symphonie wurde lediglich aufgeführt, weil die Wissenschaft herausgefunden hat, daß sie nicht von Mozart stammt. Er hat nur die langsame Einleitung geschrieben.
Mozarts frühe c-moll-Messe, die sogenannte Waisenhausmesse, bietet ebenfalls nicht mehr als gutes Handwerk. Ein Stück Gebrauchsmusik (vorzüglich gesungen vom RIAS-Kammerchor), das bestenfalls beweist, daß das 13jährige Wolferl in der Lage war, die musikalische Norm zu erfüllen. Zugegeben, es gibt zwei spannende Stellen: Zum Crucifixus läßt der Knabe ganz unpassend die Posaunen schmettern, und auch beim Agnus Dei spielt er mit Blechbläsern, Celli und Bässen ein paar Takte lang Jüngstes Gericht. Das klingt schon fast ein bißchen nach Don Giovanni und dem Steinernen Gast. Aber zwei schöne Stellen machen noch kein Konzert.
Doch, es gab auch Musik zu hören. Regers Streichquartett Es-Dur zum Beispiel, keine Neuigkeit zwar, dafür aber auf persönlichen Wunsch des frisch pensionierten Leiters der Stabi-Musikabteilung Rudolph Elwers. Oder Johann Gottfried Müthels Klavierkonzert Nr.2 d-moll, ein unbekanntes Werk von einem unbekannten Zeitgenossen der Bach-Söhne. Voller Empfindsamkeit und rhythmisch vertrackt, mit einem immer wieder abdriftenden Orchesterpart und den verspielten, selbstverliebten Hammerklavier-Soli verdient es einen Platz neben den Cembalo-Konzerten von Carl Philipp Emanuel Bach.
Die einzige Entdeckung der beiden Konzertabende war jedoch Fanny Hensels Klavierquartett As-Dur. Beziehungsweise das, was uns davon überliefert ist, denn die Komposition der damals 16jährigen ist unfertig. Aber gerade das Unausgegorene macht den Reiz: Da ringt die Leidenschaft und der Seelenschmerz eines 16jährigen Mädchens mit der musikalischen Norm. Die Motive sperren sich gegen ihre formale Bearbeitung: Der Sturm und Drang läßt sich nicht ins Noten-Korsett zwingen. Hensels Komposition ist kaum ein Quartett, immer wieder bilden die Streicher den Klanggrund für den ausscherenden Klavierpart.
In der Pause belausche ich ein Expertengespräch. Das sei doch wieder der beste Beweis, daß Fanny einfach nicht komponieren konnte, sie sei doch offensichtlich unfähig gewesen, ihr motivisches Material zu verarbeiten, so wie etwa ein Beethoven. Abgesehen davon, daß wir nicht wissen, warum sie nicht fertig geworden ist: Es ist doch gerade der Kampf, der die Musik macht, das, was sich sperrt gegen die allzu reibungslose Verarbeitung.
Im Programmheft liest sich das so: “... Ist das Klavierquartett nicht nur das Werk eines genial früh begabten Mädchens, sondern auch eine echte Mendelssohn -Komposition.“ Mit anderen Worten: Die Musikwissenschaftler befassen sich mit Fanny Hensel, weil sie die Schwester von Felix ist. Man sollte ihnen ihre Autographe um die Ohren schlagen.Christiane Peitz
Heute abend stehen u.a. zwei weitere Erstaufführungen auf dem Programm: Carl Maria von Webers „Grand Concerto pour le Piano-Forte Es-Dur“ in der Originalfassung und Beethovens Festspiel-Finale „Wo sich die Pulse jugendlich jagen“. Hoffentlich nicht nur ein rasanter Titel. Kammermusiksaal der Philharmonie, 20 Uhr.
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