Abtreibung soll "Tötung" heißen

■ Der CDU-Parteitag in Wiesbaden beschäftigte sich gestern überwiegend mit dem Thema Abtreibung / Der Paragraph 218 selbst soll nicht angetastet werden

Abtreibung soll „Tötung“ heißen

Der CDU-Parteitag in Wiesbaden beschäftigte sich gestern

überwiegend mit dem Thema Abtreibung / Der Paragraph 218

selbst soll nicht angetastet werden

Aus Wiesbaden Ursel Sieber

Der Ruf nach dem „Schutz des ungeborenen Lebens“ prägte gestern den zweiten Tag des CDU-Parteitags in Wiesbaden. Nachdem am Vormittag der erste Leitantrag des CDU -Bundesvorstands zur Außen- und Deutschlandpolitik ohne kontroverse Debatte abgehakt wurde, befaßte sich der Parteitag bis in die Abendstunden hinein mit der „Politik auf Grundlage des christlichen Menschenbildes“, wie der Bundesvorstand seinen zweiten Leitantrag genannt hatte. Dieser Leitantrag bezieht sich weitgehend auf die Abtreibungsfrage sowie auf die Zukunft des Sozialstaats.

Heiner Geißler, Generalsekretär der CDU, verteidigte in einer kämpferischen Einleitungsrede die Vorgaben der CDU -Zentrale und stellte sich gleichzeitig hinter Stoltenbergs Steuerreform und die Gesundheits- und Rentenreform aus dem Hause Norbert Blüm. Geißler betonte, die CDU müsse endlich aufhören, „die Stammwähler gegen die Wechselwähler ausspielen zu wollen“. Lobend erwähnte er Rita Süssmuth und Klaus Töpfer: Süssmuth sei wichtig für die Partei, weil sie die Frauenfrage aus der „Sektiererecke“ herausgeholt habe, und eine Politik neuen Stils symbolisiere. In der Abtreibungsfrage rechtfertigte Geißler die Linie des Leitantrags: Er wandte sich gegen eine Verschärfung des Strafrechts. Über die Veränderung des „Bewußtseins“ könne sehr viel mehr erreicht werden, betonte Geißler unter mäßigem Beifall.

„Wenn wir schon Millionen Mark für die Information über Aids ausgeben, dann dürften uns mindestens ebensoviel Millionen Mark für die Aufklärung über das ungeborene Kind nicht zu viel sein.“ (Hier klatschte Stoltenberg aber nicht mit)

Schließlich setzte sich Geißler vehement für den, wie er sagte, „Umbau des Sozialstaats“ ein: Viele Privilegien, Besitzstände und Subventionen hätten „ihre innere Legitimation verloren“: In den sozialpolitischen Aufgabenkatalog müssten verstärkt „ehrenamtliches Engagement“ einbezogen und die Mittel auf diejenigen konzentriert werden, „die der Hilfe wirklich bedürfen“. Die CDU müsse den Mut haben, Prioritäten zu setzen und überholte Besitzstände in Frage zu stellen. Die wachsenden Probleme des Sozialstaats könnten nur gelöst werden durch mehr Teilzeitarbeit, „mehr Mitverantwortung und soziales Engagement“ der Bürger und Bürgerinnen selbst.

Zum Leitantrag „Politik auf Grundlage des christlichen Menschenbildes“ lagen über 300 Änderungsanträge vor; rund 160 Anträge bezogen sich allein auf Schwangerschaftsabbrüche. Der überwiegende Teil der Änderrungsanträge forderte, den Abtreibungsparagraphen 218 zu verschärfen, die „soziale Indikation“ abzuschaffen oder die Finanzierung durch die Krankenkassen aufzuheben. Fortsetzung Seite 2

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Die Abstimmung darüber hatte bis Redaktionsschluß noch nicht begonnen. Die Antragskommission sprach sich allerdings dafür aus, einem Änderungsantrag der CDU-Trier zu folgen und einen Schwangerschaftsabbruch statt Abtreibung künftig „Tötung menschlichen Lebens“ zu nennen.

Für die offene Aussprache, die nach der Geißler-Rede angesetzt war, hatten sich ungewöhnlich viele Delegierte zu Wort gemeldet. Die Vorsitzende der Lebensschützer „Christdemokraten für das Leben“, Johanna Gräfin von Westfalen, sagte, sie seien dankbar, daß der CDU -Bundesvorstand das Thema endlich aufgegriffen habe. Der Parteitag dürfe aber nicht bei unverbindlichen Erklärungen stehenbleiben. Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht bat „um Verständnis, wenn ich jetzt meinen Gefühlen freien Lauf lasse“: Hunderttaussende von Kindern würden in unserer Mitte „getötet“.

Was sei das für eine Gesellschaft, die über die an Lungenentzündung erkrankten Robben rede und dieses Thema totschweige. Die Wahrheit sei, daß in der BRD „fast nie eine Situation entsteht, wo die Notlage nicht auch auf andere Weise gelöst werden kann.“ Der Paragraph 218 werde falsch angewandt, sagte Albrecht und spannte somit den Bogen zu der vom Konrad-Adenauer-Haus vorgegebenen Linie: Er werde für den Leitantrag stimmen, und: „Ich werde weiter leiden“. Familienministerin Rita Süssmuth forderte die Männer auf, die Frauen nicht allein zu lassen, wandte sich gegen eine Verschärfung des Strafrechts und verteidigte ihr 218 -Beratungsgesetz: die Erfahrungen zeigten, daß das Strafrecht den „Schutz des ungeborenen Lebens“ nicht gewährleisten könne. Es sei „infam“ zu behaupten, die CDU wolle über das Beratungsgesetz die Frauen manipulieren, in der Beratung Druck ausüben oder im Privatleben herumschnüffeln.