Fernab von Bonn als Hoffnungsträger

Wie die Grünen-Bundestagsfraktion im hohen Norden noch Eindruck machen kann / Mit Schutzprogramm für Nord- und Ostsee rennen sie im Wattenmeer offene Türen ein / Im Tanzwaggon nach Westerland ohne konkrete Pläne  ■  Aus Sylt Axel Kintzinger

Für Rudolf Schuhen war kein Aufwand zu groß. Der sympathische Bundesbahnbeamte weiß, daß die Grünen prinzipiell Freunde der ökologisch sinnvollen Eisenbahn sind, und vielleicht auch deswegen setzte er alle Hebel in Bewegung, damit die Bundestagsfraktion der Öko-Partei auf die Schnelle nicht nur einen eigenen Speisewagen, sondern noch dazu einen zum Gesellschaftswaggon umgebauten Tanzwagen organisiert bekam, um vor Ort in die aktuelle Umweltkatastrophe an der Küste eingreifen zu können. Vor Ort, das war am Mittwoch die Nordsee-Insel Sylt, das war der Kongreß-Saal im Kurhaus der Inselmetropole Westerland. Demonstrativ wollten die 22 (von 43) Abgeordneten genau dort präsent sein, wo auch in der Vorsaison Massen von Urlaubern tagsüber verstört auf die Schaumkrone am Strand und abends auf die Horrormeldungen in den Nachrichtensendungen blicken.

Robbensterben, Nordseetod und Algenteppich war denn auch Thema auf dem Weg von Bonn an die Küste. Wohl ohne es zu wissen, lieferte die Grünen-Fraktion ein Novum in der Parlamentsgeschichte: Die ordentliche Fraktionssitzung im fahrenden Zug. Allzuviel herausgekommen ist dabei jedoch nicht. Relativ hilflos versuchten die Abgeordneten, den Rahmen und mögliche Formen für die für den Sommer geplanten Nordsee-Schutzaktionen zu finden.Während der D-Zug über den Nord-Ostsee-Kanal rattert, überlegt man einen Aufruf zum Texaco-Boykott (die Firma bohrt im Wattenmeer nach Öl), und als die Bahn in Husum einfährt, ist man so weit, Bundes- und Landtagsabgeordnete der Grünen zum Sommerurlaub an der Küste aufzufordern - um dort im Rahmen der Aktionen prominente Unterstützung zu gewähren, versteht sich. Viele ParlamentarierInnen empfanden es aber schon als Erholung, für einen Tag rauszukommen aus Bonn, wo derzeit jede/r nur über den Finanzskandal redet. Der schien auf Sylt vollends vergessen. Per Lautsprecherdurchsage wurden die PolitikerInnen schon am Westerländer Bahnhof begrüßt, und bei ihrer Minidemonstration schlug ihnen nicht nur Ablehnung entgegen.

Daß die Grünen trotz Flügelkampf und Geldskandal noch immer Hoffnungsträger sein können, zeigte sich im Westerländer Kurhaus. An die 300 Besucher waren zur kurzfristig anberaumten Veranstaltung gekommen, Kurgäste ebenso wie Einheimische und Saisonarbeiter. Und die hatten jede Menge Fragen. Warum Chlorierte Kohlenwasserstoffe noch nicht verboten sind, warum jetzt auch schon tote Krebse am Strand liegen, und warum die Grünen nichts gegen die Tiefflüge rund um die Urlauberinseln unternehmen. Wenn die ParlamentarierInnen nicht mehr weiter wußten, sprangen Greenpeace-Chemiker Michael Braungart oder Karsten Leise, Professor an der Biologischen Anstalt Helgoland, ein.

Leise hatte die Veranstaltungsbesucher zuvor schon mit seinem „Krankenbericht über die Nordsee“ geschockt. Minutiös listete er Mißbildungen bei Seevögeln und Fischen auf, erklärte, daß der Fischbestand sich gegenüber der Zeit vor den massiven Gifteinleitungen um 80 Prozent reduziert hat, beschrieb die „Grünalgenmatten“, die sich „wie Leichentücher“ über das Watt legen. Resümee: „Darunter gedeiht nichts mehr!“ Urlauber und Einheimische fühlten sich auf erschreckende Weise bestätigt. Auch ihnen war nicht entgangen, daß aus dem ehemals klaren Nordsee-Wasser eine trübe Brühe geworden ist. Ein langjähriger Berliner Kurgast: „Schlachtensee und Krumme Lanke kommen mir gegenüber der Nordsee wie eine Trinkwasserquelle vor.“ Als die Grünen -Abgeordnete Charlotte Garbe sich darüber empörte, daß CDU, SPD und FDP erst am 10.Juni ein Nothilfeprogramm der Grünen im Bundestag abschmetterten, schüttelten auch viele Rentner verständnislos den Kopf. Und als den braungebrannten Urlaubern vorgerechnet wurde, daß das Grünen-Umweltprogramm mit 15 Milliarden Mark genauso teuer käme wie der „Jäger 90“, hätte sich kein Altparteien-Vertreter ans Mikrophon trauen dürfen.

Diese Reaktion war offensichtlich Balsam für die geschundene Seele der Bonner Grünen. Sie waren als kompetente Umweltexperten gefragt, und niemand erkundigte sich nach den jüngsten Querelen. „Vielleicht sollten wir Bädertourneen machen“, grübelte die Abgeordnete Ellen Olms, „damit hatte Helmut Schmidt früher immerhin auch einigen Erfolg.“