Sowjetunion -betr.: Moskau braucht nicht gleichzuziehen", taz vom 9.6.88, S.3

betr.: „Moskau braucht nicht gleichzuziehen“, taz vom 9.6.88, Seite 3

Wie schön, daß in der Sowjetunion außer Burda-Strickheften jetzt auch bürgerlichste (Zeit-)Geschichtsbetrachtungen die Runde machen dürfen. Zu diesen bürgerlichen Denkschablonen gehört es, daß nahezu die gesamte aktive Politik der Sowjetunion, soweit sie also vor dem Imperialismus nicht klein beigibt, sondern auf eine Stärkung bzw. Ausdehnung des Sozialismus abzielt, kurzerhand als „stalinistisch“ bzw. „von Stalin geprägt“ denunziert wird. Gerade weil der Stalinismus ein verheerendes Unglück für die im grunde seit langem überfällige sozialistische Entwicklung der Welt war und in seinen Folgen noch ist, erscheint die Inflationierung dieses Begriffs ausgesprochen unangebracht.

Ein anderes Schablonenargument betont immer wieder, der Sozialismus dürfe fremde Völker nicht beglücken - als ob solches „Beglücken“ nicht gerade die Spezialität des Kapitalismus war und ist, angefangen von der gewaltsamen Herstellung des Weltmarkts bis hin zu den jüngsten low intensity conflicts! Es mutet deshalb seltsam an, wenn Daschitschew generell von einem „Streben nach Ausweitung des Sozialismus in der Dritten Welt bei für den Sozialismus nicht reifen Ländern“ spricht: Wer sorgt denn dafür, daß Dritte-Welt-Länder bzw. -Völker, die einen sozialistischen Weg anstreben, mit allen Mitteln der Aufstandsbekämpfung niedergemacht werden, so daß sie selbst im Fall eines schließlichen Sieges derart ausgepowert sind, daß sie nur schwer Kraft und Mittel aufbringen können, eine eigenständige, sozialistische Entwicklung zu realisieren? Dieser weltweit dominierende Export der Konterrevolution wird von Daschitschew überhaupt nicht problematisiert. Stattdessen wird die - vergleichsweise wenig intensive - pro -revolutionäre Dritte-Welt-Politik der Sowjetunion auch noch des „Provozierens des unnötigen Wettrüstens der siebziger Jahre“ bezichtigt.

Die gleiche Anklage erhebt Daschitschew gegen des Gleichziehen der Sowjetunion bei der Aufrüstung. Als ob dieses Gleichziehen nicht eine legitime, ja sogar fast natürliche Reaktion auf die anhaltende westliche Vorrüstung war; als ob man denn einen Angegriffenen schuldig sprechen könnte, wenn der sich eben wehrt. Sicherlich hätte es die Möglichkeit gegeben, auf die westliche Aufrüstung nicht mit Gleichem, sondern im Gegenteil mit noch mehr Kompromißbereitschaft zu reagieren; Gorbatschow praktiziert solch Appeasement zur Zeit in einem unerhörten Ausmaß. Diese fast jesuanische Reaktion a la „Schlägst du mir auf die linke Backe...“ kann von der Supermacht Sowjetunion jedoch nicht wie selbstverständlich erwartet werden. Wer das dennoch tut, leistet weiterer westlicher Vorrüstung („Modernisierung“) geradezu Vorschub. In diesem Zusammenhang ist es auch abwegig, wenn Daschitschew unter Hinweis auf die militärische Inferiorität Chinas das Recht der Sowjetunion zur militärischen Parität mit den USA in Frage stellt handelt es sich bei China doch um eine schlichte Mittelmacht, die überdies seit ca. einem Jahrzehnt mit den NATO-Staaten verbündet ist. (...)

Bernd Maier, Karlsruhe

Ein sowjetischer Wende-Historiker kommt zu der Erkenntnis, die uns die Reaktion schon seit 70 Jahren einzuhämmern versucht: Die Gefahr kommt aus dem Osten, das „Mißtrauen“ des Westens ist berechtigt. Dieser alte Hut westlicher Propaganda ist für die taz offenbar ein Höhepunkt des „neuen Denkens“.

Laut Daschitschew war das „Streben nach der Ausweitung des Sozialismus in der „Dritten Welt“ bei Ländern, die für den Sozialismus nicht reif sind“ besonders verhängnisvoll. Ich frage mich: Wo denn? In China? Vietnam? Nicaragua? Was für eine Arroganz zu meinen, die „für den Sozialismus nicht reifen“ Völker der „Dritten Welt“ müßten erst vom großen Bruder aufgehetzt und mit Waffen versorgt werden, um die Revolution zu machen.

Besonders expansionistisch soll die UdSSR sich im Nahen Osten und in Afrika verhalten haben. Ist der Kampf der Palästinenser also eine Provokation Moskaus? Verteidigt Südafrika in Namibia und Angola seine Souveränität gegen den „sowjetischen Expansionismus“? Es lohnt sich, über die Konsequenzen dieses „neuen Denkens“ nachzudenken, bevor man darüber in Jubel ausbricht. Die Umsetzung von Daschitschews Thesen kann doch nur eins bedeuten: Die UdSSR entzieht jetzt den Befreiungsbewegungen auch noch das letzte bißchen Unterstützung, um „Frieden und Entspannung“ zu fördern. Eine wahrhaft sozialistische Reform! Konkret hieße das zum Beispiel: statt der „expansionistischen“ Unterstützung der Sandinisten gegen die US-Aggression die Belehrung, Nicaragua sollte nicht durch unnötiges Pochen auf seine Souveränität das „berechtigte Mißtrauen“ der USA erwecken.

„Was mich am 'neuen Denken‘ stört? Denken tät mir genügen.“ (H. Gremliza)

Andreas Benl, Freiburg