Das ganze Spiel ist die ganze Lüge

Es wird im Rundfunk erwähnt, „Das Buch zum Film“, welches gewöhnlich erscheint, wenn ein Roman zu anderthalb Kinostunden verarbeitet worden ist. Der Film wird im Feuilleton einer Zeitung besprochen, und im Fernsehen wird das Zweitleben diverser Schauspieler abgehandelt wie die Serie, in der sie hauptamtlich agieren. Presse, Funk und Fernsehen beschäftigen sich mehr und mehr mit der jeweils anderen Erscheinungsform des eigenen Zustandes. Wenn aber, was ein Medium zu bieten hat, anderen Medien zur Aufbereitung und Orientierung dient, dann entsteht eine Metaebene: der Schnürboden über der Marionettenbühne. Das ganze Spiel ist die ganze Lüge.

In den Redaktionen gilt Engagement für exotisch: Wer etwas zu sagen hat, darf es nicht tun. Alerte Routiniers bepriestern das Programm, dem disziplinierende Funktionen zukommen. Auf die Rede des Oberhauptes folgt die Reggaeplatte, und der Börsentip ist der Weißwäsche vorgeschaltet. Vitalität und Frohsinn sprühen wie ewige Wunderkerzen durch das Gebimmel. Wenn das Radio „Schaurig, schaurig“ sagt, darf gewettet werden, daß da nicht eine Waffenlieferung kommentiert wird, sondern das Wetter.

Die Forderung nach Objektivität der Berichterstattung hat sich in die nach Ausgewogenheit verkehrt. Das kann nur im Schweigen enden. Die Täuschung, die dort sich vollzieht, wo der Medienkonsument (das Wort ist stark!) das ihm für wichtig Verordnete wichtig nimmt, erregt längst kein Staunen mehr, ja nicht einmal Aufmerksamkeit. Betrug ist Standard, Irreführung ist erlaubt, und die Sprach-Regelungen (Billig -Lohn-Land, Erst-Schlag-Fähigkeit, Minus-Wachstum usw.) zeigen, wie weit das Einvernehmen zwischen Nachricht und hörigem Empfänger reicht.

Ein Reporter, der von eines Politikers „Fensterrede“ spricht, sagt im Klartext „Lüge“. Er vermittelt als Lakai zwischen Lügner und Publikum. Längst ist solcherart Dienstbarkeit, sind die Schrägheiten der daraus resultierenden Statements Fälle für Linguisten und abseitige Wahrheitssucher, die es ja traditionell besser wissen.

Denn: Alle stecken wir unter einer Decke! Diese Empfindung dem Publikum nahezulegen, ist eine List der Nachrichtenproduzenten. Die Meinungsmacher werben um Stammkunden, bilden Bezugsgruppen aus. Es ist nicht besonders schwierig, den typischen 'Spiegel'-Leser vom 'Stern'-Blätterer zu unterscheiden. Die Kumpelei zwischen Produzent und seinen zu kongenialen Partnern geschmeichelten Kunden ist verläßlich fest, bis als Folge einer plötzlich „dringenden“ Wahrheit - oder Sensation? - die Einvernehmlichkeit geschädigt zu werden droht, die sich aus des braven Publikums Vertrauen, nur mäßig betrogen zu werden, hatte bilden können. Aber niemals ist es so schlimm, wie es aussieht, und schon der Herr Lichtenberg (der mit dem Blitzableiter) wußte, daß nur der ein Haar in der Suppe findet, der den Kopf darüber schüttelt. Wir leben in einer relativ heilen Welt.

Ungeheure Skandale werden als relativ ungeheurlich verkauft. Wie die chemischen und nuklearen Gifte bis unter die „Grenzwerte“ mit neutraler Materie vermischt werden, um sie als ungefährlich deklarieren zu dürfen, so verwässern die real existierenden Medien Tschernobyl/Barschel/Flick zu unterhaltsamem Empörungsspiel.

Der Offenbarungseid wird zur Offenbarung, und nach dem Bombenangriff werden zuerst die Haare gekämmt. So gehört es sich. Die Nachricht von der Brandlegung in einem Autowerk am 2.März 1988 endete mit dem Satz: „Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß es sich bei dem Anschlag um einen terroristischen Hintergrund handelt.“ Die Grammatik nicht ausgeschlossen, hängt hier einiges schief. Nicht dem Anschlag auf die Blechkisten wird die Stempelung „terroristisch“ aufgesetzt: Ein gemutmaßter „Hintergrund“ ist Adressat anempfohlenen Abscheus. Die Nachricht der Nachricht zielt gegen das Denkbare schlechthin. Entscheidend, so wird suggeriert, sei nicht die Tat, sondern der Gedanke, der sich als Gegengedanke denkt. Der strapazierte Begriff „Terror“ wird zur Lobrede auf die Offizialgewalt. Die Verhöhnung der Benachteiligten liegt im Effekt: Die Brandtat, zur Nebensache und zum Sachschaden gemogelt, möge - so die Implikation - nicht weiter beunruhigen. Noch im Nachhall ist der Hörer, der verstanden zu haben glaubt, böse düpiert. Unverständlich bleibt nämlich die Tat. Das ist das Ziel der Nachricht, die eigentlich keine ist.

Was in den allseits beliebten „Umfrageergebnissen“ als Feed -back politischer Realität gehandelt wird, ist nichts als die Vermeldung der Medienwirksamkeit, die sich rückkoppelt. Was einem Kunstwerk Plastizität verleiht, weil es Reflexion veranlaßt, wird als Mittel der Medien zu einem bösen Verwirrspiel, das Transparenz verheißt, statt dessen jedoch die Erhärtung der Machtstrukturen dokumentiert und betreibt. Sinnfällig an Meinungsumfragen ist nicht nur die Konsequenz, mit der Grundsätzliches vermieden wird: Alles darf verdammt sein; nichts in Frage gestellt!

Es findet statt, was der Begriff „Meinungsbildung“ hämisch kommentiert. Die Infamie zeigt sich, indem die veranstalteten Spiegelungen als respektable Leistungen des Staates vermarktet werden. Der Mythos von seiner demokratischen Ausrichtung, die sich daran messen lasse, wie weit Kritik Toleranz erfährt, läßt mit aller Kritik am Staat eben diesen davon profitieren.

Wir bewegen uns entgegen einem nicht mehr fernen Ziel, wo das Schweigen - warte nur, balde - herrschen wird. Die Sprachmacht zitiert ihre andere Erscheinungsform und versteht alles in ihrem Sinn. Wahrheit ist das Vermögen der Multiplikation des einen mit dem anderen. Es ist das Ende des Unsäglichen oder dessen Beginn. Das ist gleich.

Norbert Jeschke