Konzert für Blinde und Taube

Während der geliftete Michael vor dem Reichstag Beifallsstürme erntete, kam die schöne Katarina auf der Radrennbahn nicht klar. Vor 120.000 Jugendlichen kündigte die 23jährige Katarina Witt Bryan Adams an, holte Heinz Rudolf Kunze auf die Bühne, stellte Hannes Wader in's Rampenlicht. Doch damit fiel die Olympiasiegerin heftig auf die hübsche Nase; die Fans quittierten ihren Auftritt mit Buh-Rufen und Pfeifkonzerten. Kati hatte auf der Pressekonferenz gleich eine Erklärung parat: „Richtige Rockfans sind nicht unbedingt auch Freunde des Eiskunstlaufs.“ Doch ganz korrekt ist das nicht: „Bubbles“, der Schimpanse von Michael Jackson, soll (so meldet jedenfalls die 'Bild-Zeitung‘) in West-Berlin dieser Tage zum Schlittschuhlaufen chauffiert werden.

„Guck, mal, da oben ist ja der Affe!“ ruft ein etwa 18jähriger Ost-Berliner lachend seinen Freunden zu und zeigt mit dem Finger auf die Krone eines Baumes. Dort hat sich ein Jackson-Fan „Unter den Linden“ in eine Linde gesetzt. Von dort aus blickt er nach vorne auf das Brandenburger Tor, Luftlinie rechts vorn liegt der Reichstag, jenseits der Mauer. Da müßte er jetzt eigentlich singen. Von Kim Wilde, die schon im Vorprogramm auftrat, wehte der Wind wenigstens ein paar Liedfetzen hinüber. Jetzt hoffen viertausend Menschen, „daß Michael mit doppelter Leistung singt“.

Es ist viertel vor zehn. Man sieht nichts. Man hört nichts. Die wartende Menge blickt auf's Brandenburger Tor, als würde er dort gleich erscheinen. Einer klettert auf eine Laterne - da sieht man besser. Beifall. Pfeifen. Das ist live. Drei klettern übereinander, bilden einen Turm. Da sieht man noch besser. Wieder Beifall. Pfeifen. Wie im richtigen Konzert. Einer zündet eine Wunderkerze an. Gejohle.

Um Punkt zehn wird das Brandenburger Tor angeknipst, es leuchtet grünlich. Beifall. Pfeifen. Die Bühne ist angerichtet. Da knackt es verdächtig in der Linde: „Bubbles“ fällt kopfüber fünf Meter tief in die Masse. Schreie, dann Beifall, Pfeifen, schließlich: „Zugabe! Zugabe!“ Die Bühne ist jetzt der Platz unter dem Baum. Der Hauptdarsteller ist leicht verletzt.

Ganz entfernt rauscht ein Beifallssturm , jetzt ist er wohl gerade aufgetreten. Die Masse klatscht. Nach Sekunden ist es wieder ruhig. Man läuft nach vorne, betrachtet die Stasi -Beamten, die Schulter an Schulter die Grenze absichern, dreht um, flaniert ein wenig in der Mitte der Chaussee. Ein Konzert, bei dem Blinde und Taube genauso auf ihre Kosten kommen. Alle haben sich chic gemacht; schließlich geht man heute abend zu Michael Jackson: Levis Jeans, das kleine Schwarze, Benetton T-Shirts. Wer aus dem Osten oder Westen kommt, ist nicht mehr auszumachen; selbst der Blick auf die Schuhe gibt das Geheimnis nicht preis: Turnschuhe, alle Adidas und Nikes.

Einer wird abgeführt. „Der hat Krawall gemacht.“ Nein, er hat nicht „Die Mauer muß weg“ gerufen, er hat nicht nach Gorbatschow verlangt. Er trägt ein Stars & Stripes T-Shirt und ist betrunken. Es ist so ruhig. Einige gucken enttäuscht. „Michael! Michael!“ wird skandiert, aber 20 Stimmen sind kein Chor. „Laßt uns mal ein Lied singen!“ schlägt ein junger Ost-Berliner seiner Clique vor, „kennt ihr keins?“ Keine Antwort. „Okay, war ja nur'n Versuch!“ entschuldigt er sich.

Plötzlich: Bewegung. Einer wird von Zivis gejagt. Wer Stühle hat, klettert drauf: „Der taucht in der Menge unter. Die kriegen den nicht. Jetzt machen seine Kumpels hinter ihm dicht. Der ist weg!“ kommentiert ein Mädchen das Geschehen.

Später wird es noch einmal laut, werden Leute verhaftet, westdeutsche Kamerateams am Filmen gehindert, Parolen skandiert, wird „Unter den Linden“ geräumt. Es gab Zoff, es gab keine Musik, es gab kein Bier, und gesehen hat man nichts. Aber ein gutes Konzert war es trotzdem.

Stefan Schönert