UNENDLICHES ENDSPIEL

■ „Quartett“ von Heiner Müller im Schloßpark-Theater

Eine Geschichte aus historischer Zeit. Die dem Untergang in der französischen Revolution geweihte Aristokratie trägt gleichwie den Keim des Todes schon in sich, die Langeweile, die sie auch in der gesteigerten Zügellosigkeit nur reproduzieren, nicht negieren konnte. Die Zeit, die jene Monstren der Begierde gebar, von denen uns neben de Sade und Restif de la Bretonne auch de Laclos Kunde gibt, der Heiner Müller das Sujet zu seinem Stück gab. Da wird der Vicomte de Valmont, ein Libertin, der seinen Machtinstinkt stets darin, eine Frau nicht nur zu verführen, sondern auch zu verderben, befriedete, in die Hoffnung einer Seelenfreundschaft zu der Marquise de Merteuil verfallen. „Was fällt, das soll man“ nicht, wie jener aus der Bibel zitiert, „aufrichten“, sondern stoßen. Dies wird die Marquise vollziehen.

„Quartett“, ein Wechselspiel für mehr als nur zwei Personen. Die zwei, die sich begehren, aber nicht lieben können, spielen sich mit vertauschten Rollen die erste Begegnung vor. Sie verwirklichen dabei deren Wahrheit, daß jeder statt des wirklichen anderen nur den Spiegel seiner Begierde sah; ein täuschendes Bild, das nur die verkehrte Maske des anderen in sich schließen konnte, der sich hinter der Galanterie verbarg, dieser doppeldeutigen Sprache, die das Verlangen des anderen zu provozieren, das eigene aber zu verhüllen trachtet. So erblickt in dem Spiel jeder im anderen sich, muß sich in diesem Bild verachten, für nichtig befinden, erkennt zugleich in sich den anderen. Eigentlich eine heilsame Erkenntnis. Doch die Lüge gewordene Liebe kann nicht mehr versöhnen, der Sex nicht die Wunde des Selbstbewutßseins schließen. Und der Tod? Da jeder im anderen ist, hat der eigene Tod wie der des anderen gleichviel und wenig Sinn. Man kann ihn wünschen, doch wer wird ihn ausführen.

Ein Stück Geschichte. Der Herr Valmont, der den „Pöbel“ verachtet, kaum weniger die Frauen, zeigt sich als Sklave des Genusses, der alle die aristokratische Erhabenheit vorstellende Philosophie und Religion nur gebraucht, sich eine Lust zu erschleichen, die so entseelt und entgeistet, tierisch ist. Die in diesem Verhältnis knechtische Marquise de Merteuil kann ihn aber, da sie sich nur emanzipieren kann, indem sie ihm gleich wird, nicht überwinden, kann sich seiner nur dadurch entledigen, daß sie ihn tötet. Das revolutionäre Bürgertum hatte späterhin wohl ähnliche Probleme.

Geschichte wäre keine, wenn sie sich nicht in der Gegenwart wiederfände; natürlich wiederholt sich die Tragödie nicht. So gibt die Komödie „Quartett“ einen humorvollen Einblick in die heutige Wirklichkeit. In eine Zeit, in der der prickelnd bourgoise Lebensstil für den großen und kleinen Bürger nur noch Repräsentation seiner selbst ist, in der auch die letzte Lebensgarantie gegen die Allherrschaft der Ökonomie in der Akkumulation des geheiligten Sexus gesucht wird (das geht tierisch ab, gelt) oder wurde („Ist denn Tugend eine Infektionskrankheit?“). Und Liebe und Tod oder Sex und Tod oder was immer, erquickend, daß die bleiern schleichende Mythe einmal mit kräftiger Ironie gepackt wird. Wie auch manch andere Form des Zeitgeists: So versucht Valmont die schmerzhafte Trennung von Mann und Frau dadurch zu überwinden, daß er sich der Frau äußerlich angleicht.

Eine Komödie also von vielfältiger Gedanklichkeit und trefflicher Zeitkritik. Wenn man nicht so häufig lachte, lag es wohl daran, daß die Inszenierung Hans Peter Cloos‘ nicht um die Lacheffekte bemüht ist, sondern um einen äquivalenten Bühnenausdruck des Stücks auch in seinem Gedankenreichtum. Sabine Sinjen, zeitironisch mit gruftiger Stimme, die sie in allen Spielarten beherrscht, und Joachim Bliese überzeugen durch eine vom eigenen Interesse getragene Ausformung ihrer Rollen. Eine Aufführung, die wirklich sehens- und bedenkenswert ist.

glagla