WOLLT IHR DIE TOTALE WERBUNG?

■ „Die Nacht der Werbefresser“

Jean-Marie Boursicot präsentiert aus seinem Archiv (120.000 Werbespots und Filmtrailer, Spielzeit insgesamt rund 5.000 Stunden) „La Nuit, die Nacht der Werbefresser mit 600 Werbefilmen aus 80 Jahren und 40 Ländern“... „Was denn, meinst du das etwa ernst? 36 Mark für ein pieseliges französisches Frühstück hinblättern, und um es zu kriegen, muß ich vorher noch sechs Stunden Werbefilme glotzen, nee bedankt!“ Sichtlich beruhigt über den noch erfrischend realistischen Verstand meiner Freunde, die nichts mit Kino zu schaffen haben, erinnerte ich mich an das, was ich neulich über den Entwurf des „Drei-Minuten-Menschen“ las. Da hieß es, daß unsere Sinne zunehmend verstümmelt werden in der Absicht, unsere Wahrnehmungs- und Konzentrationsfähigkeiten auf eine Zeitspanne von drei Minuten zu vereinheitlichen; alles, was weit über dem Drei -Minuten-Takt liegt, wird erst gar nicht gespeichert.

Was aber, außer einem Gefühl von Blödsinn im Kopf und gräßlich schmerzenden Augen, soll ein sechsstündiger Glotzmarathon von Werbefilmen bezwecken? Wird da nicht die offenkundige Lust am Produkteschauen und Konsumrauschen zum blanken visuellen Terror, für den man auch noch zu bezahlen hat? Die Cannes-Rolle kann mich mal kreuzweise, aber irgendwas beunruhigendes ist dran an diesem zur Massenhysterie neigenden Phänomen, Werbung in sich reinzustopfen wie Süßigkeiten vor dem Fernseher. Sind Werbefilme etwa mit Suchtstoffen präpariert und wirkt da ein geheimer Verführer zwischen den bunten Bildern - Crack bringt verbrauchte Energie zurück?

Die klassische Produktwerbung ist doch längst ein kapitalistischer Zombie. Der Verkauf einer Ware ist unwichtig, produziert wird sie bald nur noch aus dem Zwang heraus, die Werbung dafür an den Mann und die Frau zu bringen. „Fräulein, wo kann ich denn das neue Geschirrspülmittel finden, das ich gestern in der Werbung sah?“ - „Ach gnädige Frau, das gibt's doch gar nicht wirklich, das war doch nur Werbung.“

Also entscheidet euch: Wollt ihr die totale Werbung? Wenn ja, dann ist „Die Nacht der Werbefresser“ ein gefundenes Fressen für euch, und die filmische Realität des Champagner -Streifens der Gebrüder Lumiere werdet ihr ebenso leicht verdauen können wie den schwarzen englischen Humor als zynische Werbestrategie: fressen und vergessen. Ganz entspannt im Vorurteil, werde ich mich „im Labyrinth der Psyche unseres Jahrzehnts“ einnisten, und falls sich mein Geist nicht in den Technicolor-Träumen von zarter Seidenunterwäsche und stabilen Einbauküchen verflüchtigen sollte, folgt ein authentischer Überlebensbericht aus dem Herzen der Bestie.

Unbedingt erwähnen... Kultur... auf jeden Fall... E88... wird gemacht: „Die Nacht der Werbefresser“, veranstaltet/gesponsort von - wo hab‘ ich denn bloß den Zettel gelassen...

Andreas Döhler

„Die Nacht der Werbefresser“ am Fr und Sa im Delphi, von 23 bis 7 Uhr.