Heilsapostel oder mafiose Teufelsbraten?

Sekten in Kalabrien sind Tarnorganisationen für weitverzweigte italienische Mafiagruppen / Hunderte von Morden pro Jahr in der Region / Wirkliche Gläubige haben keinen Platz in den kriminellen Organisationen / Bei Verrat Mord oder Suizid  ■  Aus Amantea Werner Raith

In Reiseprospekten gilt Amantea in Nordkalabrien als „malerischer Küstenort mit herrlichem Strand“. Geschichtsbewanderte wissen, daß hier einst die Sarazenen eine mächtige Festung bauten und daß im vorigen Jahrhundert von hier aus die Italiener die Franzosen Bonapartes wieder hinauswarfen. Aber die Staatsstraßen 18 und 278 machen längst einen Bogen um die 1.000-Einwohner-Stadt und damit den Ort eher zum verschlagenen Nest als zum Schauplatz erregender Ereignisse. Trotzdem raufen sich, ungeachtet der großen Hitze, Dutzende von Reportern um die wenigen freien Hotelzimmer. Ziel ist freilich weniger Amantea selbst als das dahinter gelegene San Petro in Amantea mit knapp 900 Einwohnern. Da gibt es eine gerade fürs beginnende Sommerloch prächtige Sensationsstory: Bei einer zufälligen Kontrolle eines alten Einödhofs in der Nähe des Dorfes stießen Carabinieri auf eine Leiche, die wahrscheinlich einem Ritualmord zum Opfer gefallen war - zwölf Einschüsse, eine spezifische Fesselung, merkwürdige Runen in Form eines Kreises mit zwölf Kreuzen an der Tür. Das Haus diente einer Sekte namens „Gruppe des Rosenkranzes“ als Kultstätte. Die Polizisten nahmen kurzerhand alle fest, die im Ruch einer Beziehung zu den merkwürdigen Frommen standen. „Die konnte man leicht erkennen“, berichtet der Carabinieri-Feldwebel vom Festnahme-Kommando, „weil sie alle ein weißes Hemd mit diesen zwölf Kreuzen trugen.“ 35 Mitglieder der Sekte rückten Ende Mai ins Gefängnis ein, doch das war erst der Anfang.

Bei ihren Recherchen stießen die Polizisten auf Verbindungen, die weit weg führten - nach Turin, ins Weltzentrum des Okkultismus, der Sekten und Teufelsanbeter. Auch in der Nähe von Salerno sowie in Sizilien meldeten Fahnder Rosenkränzler. Manche der Brüder von San Pietro in Amantea waren aus Turin zugewandert. Auch der Sektengründer selbst, der vor fünf Jahren verstorbene „Oberste Betbruder“ (Santone) Antonio Naccarato weilte lange in Turin, ehe er zurückgekommen war und zusammen mit seiner Nichte Lidia („Santoa“) die merkwürdige Gruppe gegründet hatte. Hauptinhalte, jedenfalls nach außen: ständiges Umkreisen eines kleinen Altars, stundenlanges Rosenkranzbeten und wochenlanges Fasten sowie, seit dem Tod des Onkels, ausschließlich lesbische Beziehungen. Und das ist wohl auch der Grund für das große Presseinteresse - Lidia ist längst in den Ruch einstiger inzestuöser Beziehungen zum Onkel geraten, die ganze Gruppe wurde zum Orgienverein stilisiert. Dorfpfarrer Don Francesco Furchi hält die Mitglieder der Sekte allerdings für „religiöse Eiferer, wie es sie in Kalabrien zu Zehntausenden gibt“. Die Messe las er ihnen freilich schon lange nicht mehr, und auch das Ansinnen eines Weltgebetstags für die vorgesehene Auferstehung des Onkels Ende Mai schlug er aus.

Die Medien interessierten sich auch für die Leiche Pietro Latellas im Keller des Sektenhauses; doch seit sich herausgestellt hat, daß da nicht sexuell manipuliert, sondern „nur“ rituell gemordet worden ist, hat das Interesse an dem Toten nachgelassen.

Anders bei den Fahndern: Pietro Latella, 27, soll nach Angaben eines Sektenmitglieds - dem einzigen, das bisher den Mund aufmacht - trotz seiner „hohen Stellung als einer der zwölf Lidia zur Seite stehenden Aposteln ein Verräter“ gewesen sein und so die festversprochene Auferstehung des Onkels verhindert haben. Mit welcher Tat der angebliche Judas das Ereignis blockiert hat, ist unklar. Die Fahnder von Priesterin Lidia vorsichtshalber gleich alle „exkommuniziert“ - vermuten vielmehr, daß der Mann allerlei über andere, recht profane Tätigkeiten der Rosenkränzler gewußt haben könnte. Denn in einem Raum des Hauses wurden Dutzende von Feuerwaffen und Munition für eine halbe Kompanie sowie umgerechnet 400.000 DM in bar gefunden.

Die Ermittler gehen düsteren Fährten nach - zwei der aus Turin zugereisten Sektenbrüder sind Gangster, und in den anderen Dependencen fanden sich weitere dunkle Gestalten, unter anderem einige, die im dringenden Verdacht der Beteiligung an Lösegelderpressungen stehen. Es wäre nicht das erste Mal, daß Kalabriens kriminelle Gruppen religiösen Hokuspokus zur Tarnung ihrer Aktivitäten nutzen: Der Landstrich zählt zu den Gebieten Italiens, wo seit eh und je Aberglaube und heidnisches Denken am kräftigsten blühen. So fanden z. B. Carabinieri voriges Jahr bei der Festnahme eines seit 18 Jahren wegen Mordes und Erpressung gesuchten Bosses der kalabresischen Mafia („'Ndrangheta“) seitenweise Angaben über Aufnahmeriten und Disziplinarmaßnahmen in die Organisation, allesamt in Form pseudoreligiöser Nomenklatur. 'Ndrangheta heißt dabei „die Heilige“, der Boss ist ein „capo santista“, ein Geheiligtes Oberhaupt, ihm zur Seite stehen ein „Geheiligter Stellvertreter“ sowie ein „Kontrollmeister“, alle geschützt durch eine „geheiligte bewaffnete Eskorte“. Die Mitglieder erkennen sich an religiösen Sprüchen, und der Schwur beim Eintritt in die Organisation lautet: „Im Namen der Heiligen Krone und vor diesen Brüdern der Heiligen schwöre ich, stets diese Kugel mit Gift bei mir zu tragen und im Fall, daß ich diese Brüder der Heiligen verraten sollte, mich mit meinen eigenen Händen umzubringen.“ Ob alle Gangster sich auf diese Weise verbünden, ist unklar. Doch die meisten Fahnder sind überzeugt, daß die machtvollen Gruppen, die heute mit Hunderten von Morden pro Jahr die Gegend terrorisieren, nur aufgrund solcher angsteinflößender Rituale und Sanktionsdrohungen immun gegen Verfolgung und Verrat sind.

Im Falle der Sekte von San Pietro in Amantea jedenfalls vermutet der federführende Staatsanwalt Lugi Belvedere, „auf die Spur einer weitverzweigten Gangsterorganisation gekommen zu sein, die vor allem in Oberitalien entführte Personen nach Kalabrien schafft und dort in den Bergen versteckt“. Der ermordete „Verräter“ Pietro könnte in diesem Zusammenhang ein wirklicher Gläubiger gewesen sein, der die religiösen Inhalte ernst nahm und sich irgendwann des kriminellen Hintersinns der Aktionen bewußt geworden war. „Und dann“, vermutet Belvedere, „war der 'Judas‘ der wohl einzige ehrliche Mensch in dem ganzen Betverein.“