Konstruktiv

■ Der Protest in den baltischen Republiken

Es steckt kein Komplott dahinter, wenn estnische und lettische Intellektuelle und Delegierte für die bevorstehende Parteikonferenz gleichzeitig die gleichen Forderungen aufstellen und das gleichzeitig. Diese Entwicklung drückt vielmehr das spezifische Selbstbewußtsein und die besondere geographische Lage der baltischen Staaten aus.

Der Protest gegen die russische Überfremdung ist keine nationalistische Schrulle. Die Balten sind in einigen ihrer Städte schon in der Minderheit. Während von ihnen im Alltag automatisch Zweisprachigkeit verlangt wird, ist der Grad der Zweisprachigkeit der dort lebenden Russen offiziellen Statistiken zufolge geringer als in anderen Unionsrepubliken.Die Forderung nach Verankerung der Muttersprache in der Unionsverfassung ist keineswegs revolutionär und in den Kaukasusrepubliken schon längst Realität. Auch der Anspruch auf eigene außenpolitische Vertretung ist in der Sowjetverfassung verankert. Verwirklicht wurde er allerdings nur pro forma im Falle der Ukraine und Weißrußlands, die selbständige UNO Mitglieder sind.

Insgesamt bieten die Balten ein konstruktives Konzept für das Miteinander der Sowjetnationalitäten. Anders als die Wünsche der Bürger von Berg-Karabach sprengen ihre Forderungen nicht die sowjetische Verfassungswirklichkeit, sie haben vielmehr diese Verfassungswirklichkeit und die Verfassung explizit zum Thema. Der Vorschlag der Esten, eine übernationale Schlichtungsinstanz zu schaffen, scheint auf Dauer aus all den Nationalitätenkonflikten der einzig denkbare Ausweg zu sein.

Barbara Kerneck