Übergangskongreß

■ Die ÖTV und die Einheitsgewerkschaft

Es war ein Kongreß des Übergangs. Das Neue, die gesellschafts- und gewerkschaftspolitische Perspektive der ÖTV hat sich noch verpuppt in den traditionell innergewerkschaftlichen Konflikten - sei es über die Einheitsgewerkschaft, über den Atomausstieg oder die Aufnahme von Arbeitslosen in die Gewerkschaft. Dies ist gerade in der ÖTV auch nicht anders zu erwarten. Sie ist die heterogenste Einzelgewerkschaft im DGB. Modernität und Erstarrung prallen in ihr wie nirgendwo sonst in der deutschen Gewerkschaftsbewegung unvermittelt aufeinander oder stehen zuweilen unverbunden und verständnislos nebeneinander. Dies erfordert von der Führung der ÖTV einen schwierigen Balanceakt, der inhaltliche Präzision - etwa in Sachen Atomausstieg - kaum erlaubt und Kompromisse produziert, die sich in Konturlosigkeit verlieren.

Die Vorsitzende der ÖTV, Monika Wulf-Mathies, hat diesen Balanceakt nur mit Mühe bewältigt. Die notwendigen Diskussionen über die „Zukunft des Öffentlichen Dienstes“ wurden in Hamburg kaum geführt, aber glücklicherweise auch nicht abgewürgt. Bestrebungen dazu gibt es in den traditionalistischen Gewerkschaftsmilieus sowohl auf der Rechten wie auf der Linken. Denn eine solche Diskussion, die letztlich in eine Debatte über Zukunft und Reform des Sozialstaats einmünden muß, kann nicht in jedem Fall vor dem gewerkschaftlichen Besitzstand halt machen - zumindest dann nicht, wenn der in Widerspruch gerät zum Interesse der Bevölkerung nach besseren, unbürokratischeren, zeitlich flexiblen und von allen Elementen des Obrigkeitsstaates gesäuberten Dienstleistungen.

Nicht die Antragsdebatte, nicht die Diskussion über politische Inhalte hat also diesen Kongreß geprägt, sondern der Eklat um die zunächst gescheiterte Wahl eines CDU -Mitglieds in den Geschäftsführenden Hauptvorstand der ÖTV. Zur Debatte stand dabei gar nicht mehr die auslösende Kontroverse um den Paragraphen 218, sondern die Frage, wie sich die Gewerkschaft ÖTV zukünftig im politischen Spektrum der Republik bewegen will. Diejenigen, die von links her versucht haben, den Zwangsproporz mit der CDU, den man Einheitsgewerkschaft nennt, bei dieser Gelegenheit zu knacken, blockieren gleichzeitig mit ihren traditionalistischen gewerkschaftlichen Positionen die offene Perspektivdiskussion innerhalb der ÖTV.

Natürlich muß die Frage erlaubt sein, ob die Wahl eines CDU -Menschen in gewerkschaftliche Spitzengremien auch dann noch zwingend notwendig ist, wenn die Christlichen Arbeitnehmer kaum noch in der Lage sind, akzeptable Kandidaten zu präsentieren und zudem in ihrem eigenen Lager zur irrelevanten Randgruppe geworden sind. Aber in diesem Konflikt ging es sehr bald nicht mehr nur um Proporz, CDU und Regierungspolitk, sondern um ein gewerkschaftliches Selbstverständnis, das sich zur Gesellschaft hin öffnet oder abschottet. So ist es zu erklären, daß die parteiunabhängige Linke in der ÖTV, die in der Perspektivdiskussion eine Schlüsselrolle spielt, die Wahl des CDA-Kandidaten Zimmermann aus eigenem Interesse unterstützt hat.

Martin Kempe