: ÖTV-Zukunft im Verborgenen
Konflikte um die Einheitsgewerkschaft überlagerten die innergewerkschaftliche Perspektivdiskussion / Proporz mit den CDA gerade noch gerettet / ÖTV-Gewerkschaftskongreß stellte keine Weichen ■ Aus Hamburg Martin Kempe
Ein bißchen hilflos trat das frisch gekürte Hauptvorstandsmitglied Ralf Zimmermann von einem Fuß auf den anderen, als er von den Journalisten über die Umstände seiner plötzlichen Beförderung ins Führungsgremium der Millionenorganisation ÖTV befragt wurde. Es ging ja auch alles so schnell, der Anruf Mittwoch nacht, am nächsten Morgen Flug nach Hamburg, die stundenlangen Beratungen, die Wahl am Donnerstag: Zimmermann war nicht einmal dazu gekommen, sich ein frisches Hemd zu gönnen - und in der weitgefächerten Beschlußlage der ÖTV kannte sich der frühere Gesamtbetriebsratsvorsitzende der Lufthansa-Service -Gesellschaft auch noch nicht so genau aus.
Aber der 32jährige Jungfunktionär hat dennoch eine Hauptrolle auf diesem Gewerkschaftstag gespielt. Er ist in den Vorstand der ÖTV katapultiert worden, weil nur so die derzeit ohnehin gefährdete politische Grundlage bundesdeutscher Gewerkschaftspolitik gerettet werden konnte: die Einheitsgewerkschaft. Ihr ganzes Prestige hat die ÖTV -Vorsitzende Monika Wulf-Mathies in die Wagschale geworfen, um mit Zimmermann einen Vertreter der Christlichen Arbeitnehmer durchzusetzen, der in der Arbeitnehmerorganisation der Union als einer der ihren akzeptiert wird.
Es ist ihr gelungen, obwohl die Personaldecke der CDA innerhalb der Gewerkschaften kaum mehr ausreicht, um überzeugende Vertreter für gewerkschaftliche Spitzenfunktionen zu präsentieren und obwohl nicht wenige unter den Delegierten den Eklat um den gescheiterten CDA -Kandidaten Constantin ausnutzen wollten, um den traditionellen Proporz mit den CDA im Hauptvorstand ganz zu kippen. Das ist mit Müh und Not verhindert worden. Die politische Option der sozialdemokratischen Gewerkschaftsspitze, gewerkschaftliche Positionen auch in das Regierungslager hineinzutragen, wurde zerzaust, aber letztlich gerettet.
Solidarität und weltanschauliche Toleranz beschwor die ÖTV -Vorsitzende im Zusammenhang mit dem CDA-Konflikt. Sie wurden zu den Schlüsselworten des gesamten Kongresses, um die widersprüchlichsten Kräfte weiterhin in die Organisation einbinden zu können. Auch die Betriebsräte in den Atombetrieben nahmen sie in Anspruch, weil sie eine eindeutige Festlegung der ÖTV auf den Atomausstieg verhindern wollten.
Die Loyalität dieser Betriebsräte zur Atomindustrie ist schier grenzenlos, die zu ihrer Gewerkschaft wesentlich geringer. Dennoch versucht der ÖTV-Hauptvorstand, ihnen entgegenzukommen und legte einen windelweichen Leitantrag zur Energiepolitik vor, in dem zwar der Ausstieg gefordert wird, aber alles Wesentliche offen bleibt: eine Frist für den Ausstieg wurde nicht genannt, der Ausstieg nur für eine Reaktorlinie, die Leichtwasserreaktoren, gefordert. Die im Bau befindlichen AKWs dürfen ans Netz gehen, und wenn die Lage sich 1992 durch die Herstellung des europäischen Binnenmarktes ändern sollte, kann die ÖTV ihre Atompolitik wiederum revidieren. Ein Teil dieser Schlupflöcher wurde durch einen mit großer Mehrheit gegen das Votum der Antragskommission angenommenen Zusatzantrag gestopft.
Die Zukunftsperspektive der ÖTV blieb auf diesem Kongreß noch verborgen. Seit Monaten gibt es zwar eine intensive Diskussion in einigen progressiven Bereichen der Organisation zum Thema „Zukunft des Öffentlichen Dienstes“, in der es um eine völlige Neubestimmung der ÖTV-Politik geht. Aber nur mit Mühe konnte die Vorsitzende Wulf-Mathies die Ablehnung eines Antrags aus dem Bezirk Hessen verhindern, der hierfür einige Anstöße gibt. Das Interesse der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst, das ist das Grundprinzip dieses neuen Denkens, darf nicht unabhängig vom Inhalt und Qualität der öffentlichen Dienstleistungen formuliert, sondern muß mit den Bedürfnissen der Bevölkerung in Übereinstimmung gebracht werden. Das Engagement der Beschäftigten für die Inhalte ihrer Arbeit ist der Ansatzpunkt dieser neuen Gewerkschaftspolitik, die auf dem Hamburger Kongreß hinter all den traditionellen innergewerkschaftlichen Konflikten noch kaum sichtbar geworden ist.
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