Belagerte Gay-meinde

Washington (taz) - Die Inschrift auf seinem Grabstein bestimmte er noch selbst, bevor er am vergangenen Mittwoch an Aids starb: „Ein schwuler Vietnam-Veteran. Ich erhielt eine Auszeichnung, weil ich zwei Männer getötet, und die Kündigung, weil ich einen geliebt habe.“ Leonard Matlovich (44) war ein Symbol des Kampfes der Schwulen um Gleichberechtigung. 1975, nach 12 Jahren in der US -Luftwaffe, nach militärischen Ehrungen in Vietnam, hatte er sich gegenüber seinen Vorgesetzten zu seiner Homosexualität bekannt. Die Reaktion: Er wurde gefeuert. Fünf Jahre lang kämpfte Matlovich vor Gericht gegen die Kündigung, am Ende stimmte er einem Vergleich zu und ließ sich 160.000 Dollar als Entschädigung zahlen.

Menschen wie Matlovich, wie die schwulen Kongreßabgeordneten Barney Frank und Gerry Studds oder der vor knapp zehn Jahren ermordete schwule Stadtrat Harvey Milk aus San Francisco haben dazu beigetragen, daß die Diskriminierung von Schwulen abgebaut wurde. Vor zwei Wochen rang sich sogar der Oberste Gerichtshof dazu durch, daß ein Schwuler erstmals auch gegen seine Entlassung aus dem CIA klagen darf. Die Aids-Epidemie, der bereits weit mehr als 20.000 Menschen in den USA zum Opfer gefallen sind, hat mittlerweile neue Schranken aufgebaut und die Angst unter Schwulen wiederbelebt. Die Schwulen seien „eineGemeinde im Belagerungszustand“, sagt Kevin Berrell von der „National Gay and Lesbian Task Force“. Aids habe „die Flammen schwulenfeindlicher Vorurteile neu angefacht und diese legitimiert“. Gleichzeitig hat die Wahrheit dem Anliegen der Schwulenbewegung neue Dringlichkeit verliehen.

Kaum ein Ereignis in den letzten zwölf Monaten hat dies mehr unterstrichen als der nationale Schwulen- und Lesbenmarsch auf Washington im vergangenen Oktober, an dem sich mehrere hunderttausend Menschen beteiligten und der von Aids-Kranken imRollstuhl angeführt wurde. Dank der Kandidatur Jesse Jacksons spielte Aids und Schwulendiskriminierung auch im diesjährigen Präsidentschaftswahlkampf eine Rolle. Im Zeichen von Aids standen auch die Demonstrationen zum „Gay Pride Day 1988“, die an den letzten drei Wochenenden in vielen Städten der USA stattfanden, darunter in Boston, Washington D.C., New York und San Francisco. In San Francisco, wo eine Viertelmillion Menschen zum jährlichen Umzug am Sonntag erwartet. Zum ersten Mal hat sich auch der Bürgermeister der Stadt, Art Agnos, angesagt, unter anderem, um den vor kurzem gestorbenen schwarzen schwulen Schriftsteller James Baldwin dabei posthum zu ehren.

In New York dauerte der „Gay Pride Day“ das ganze Wochenende lang; Samstag wurde im Central Park das New Yorker „Aids-Quilt“ ausgestellt, ein gigantischer bestickter Flickenteppich, dessen einzelne Teile jeweils einem Aids -Opfer gewidmet ist. Die Idee geht auf Cleve Jones, einen Schwulen aus San Francisco zurück; gegenwärtig werden die bislang 5.000 Teile im ganzen Land ausgestellt, im Oktober, kurz vor der Präsidentschaftswahl, sollen sie in Washington zusammengenäht zu sehen sein.

Stefan Schaaf