Wortgewandte Betroffenheit

■ Seit 1872 in London, seit zwei Jahren in Bremen: „Speakers Corner“ bietet allen die Möglichkeit, ihre Meinung kundzutun

In Annäherung an das Londoner Prinzip der Speakers Corner, das seit 1872 Spinnern, Weltverbesserern, Suffragetten der Labour Bewegung und dem oder der, die sonst noch etwas zu sagen haben oder hatten, Raum gibt, hat auch Bremen seit zwei Jahren einen solchen Ort. Jeden Sonntag um 15 Uhr, wenn die Ebbe der Weser eine große Grünfläche freigibt, sind BremerInnen aufgerufen, ihre Meinungen kundzutun. Und tatsächlich, Sonntag um 15 Uhr markieren zwei Transparente und gelbe Fähnchen den Schauplatz, auf dem fünf kleine Podien darauf warten, bestiegen zu werden. Beim genaueren Hinsehen werden auch versprenkelte Grüppchen offenbar, die sich meist paarweise bemühen, nicht den Eindruck zu erwecken, auf etwas zu warten. Doch da, „schepper, schepper“, kräftige Beckenschläge kündigen den Beginn an. Ein peinlicher Hauch liegt in der Luft, wenn alle Podien trotzdem noch auf ihre Eroberer warten. Plötzlich drehen sich alle Augenpaare in eine Richtung, sollte einer den ersten Schritt gewagt haben? Ja, dankbar gesäumt von

einem Häufchen Zuhörer, werden Meinungen zum Robbensterben laut. Wortgewandt wird die eigene Betroffenheit bekundet. Einwürfe aus dem Puplikum versuchen eine spontane Atmosphäre zu schaffen, die allerdings nicht ganz glaubhaft wird. Auch die folgenden Redner verlieren leider nie den Geruch von Professionalität los. Der kleine Junge, der in die vom Redner angeführte Reihe von bereits ausgestorbenen Spezies auch noch die Ritter einfügt, erzeugt dankbare Lacher. Als er daraufhin das Podium erklimmt und nach einigen Worten seinen Pappi aufs Podium zitiert, sieht der in die Enge getriebene Pappi sich genötigt, seinen Sprößling aus der Mitte zu locken. Inzwischen werden moralische Apelle und Tips zum Energiesparen laut. Kuchenbacken am Abend mit frisch gemahlenem Getreide ist die Devise. Es wird gegen individuelle Lösungen und kollektiven Hungerstreik plädiert. Die inzwischen ausgebrochene drückende Hitze und eine gewisse Gleichförmigkeit lassen Durst und Müdigkeit aufkommen.

Kerstin Dreyer