Mein mythischer Metzger

■ Michael Ponti im Kammermusiksaal

Zwölfjährig sah ich Michael Ponti zum ersten Mal. Er hatte sich in die Aula des Gymnasiums unserer westfälischen Kleinstadt verirrt. Ein Naturereignis an Kraft, von der Statur eines Metzgers, spielte er als Zugabe eine Etüde nur für die linke Hand. Die wirbelte in Arpeggien über die Tasten. Mir stand der Mund offen. Plötzlich aber zauberte er aus der Mitte der Tastatur eine Melodie, während die Hand unverändert auf und abwirbelte. Niemand wußte woher.

Dieser Mann, vergrößert durch die kindliche Wahrnehmung und verklärt durch die Erinnerung zu einer fast mythischen Figur, gastierte nun im Kammermusiksaal mit seinen Triokollegen: Robert Zimansky, Violine, und Jan Polasek, Cello. Seine Statur glich nicht mehr der eines Metzgers, eher der eines vom Koks Ausgezehrten. Am Flügel jedoch ist er die gleichbleibend unvergleichliche Erscheinung: Körperlich phlegmatisch und spannungslos, lauern seine Augen gespannt wie die eines Raubtieres zum Sprung. Und keine Note entgeht ihm, auch in noch so virtuosem Gedränge. Sein Spiel, und auch das seiner Kollegen, ist von wissenschaftlicher Exaktheit und Unfehlbarkeit. All das geschieht mit größter Gelassenheit und Selbstverständlichkeit.

Mit derartigem Pragmatismus rückten sie dem 2.Klavierkonzert E-moll von Camille Saint-Saens zu Leibe. Grimmig und boshaft zeigten sie diesem bräsigen Klassizisten, der mit beethovischem Handwerkszeug operiert und dabei haarscharf an der Salonästhetik vorbeischrammt, wie man aus seinem Schinken ein Stück genießbarer Musik macht: Wo der Schinken zu fettig wurde, spielten sie trocken und sachlich, an zu seichten Stellen entschieden emotional.

Man kann nur ungläubig und hilflos mit dem Kopf schütteln, wie nebensächlich und unspektakulär die drei Herren die dicksten Bravourpassagen meistern. Das grenzt an Überheblichkeit. Der Effekt ist verblüffend: Saint-Saens Musik verliert an virtuosem Glanz und gewinnt an Substanz.

Ein ideales Arbeitsfeld für unsere Präzisionsmusiker bot sich mit Ravels Trio A-Moll. Hier sind impressionistischer Klangfarbenreichtum und strenger Satz, gleichsam Fläche und Zeichnung, wunderbar vereinigt. Gefragt sind aufgeklärte Sachlichkeit und detailbesessene Sensibilität zugleich.

Mein mythischer Metzger Ponti schafft unter seinen Fingern Klänge, dünn und zerbrechlich wie Glas. Geiger Zimansky und Cellist Polasek haben ein Unisono, Pianissimo und ein gläsernes Flageolett, wie Abendlicht. Zugleich greifen sie trotzdem richtig zu. Sie vertrauen weniger auf Einfühlung. gehen weniger in die Musik, um sich dann empfindend aus ihr heraus auszudrücken. Erfrischend diesseitig. Unprätentiös und ohne theatralische Kontaktaufnahme mit dem Jenseits musizieren sie, machen konzentrierte, gute Arbeit.

Nach der Pause traf amerikanischer Pragmatismus auf deutschen Geist. Der Angelsachse denkt nicht tief, wo es nicht sein muß. Der deutsche Geist schon. Er nebelt solange, bis die einfache Wirklichkeit verschwindet. Dieses neblige Nichts zu empfinden, nennt er tief. Und sondert Philosophie ab. Mit dieser Art Weltsicht hat das Trio nichts im Sinn. Es schafft klare Sichtverhältnisse, auch bei Brahms. Dessen Trio C-dur, op.87 behält aber dennoch seine Untiefen. Brahms Tiefe ist nicht Nebel, Mangel an Konturiertheit, sondern Substanz.

Ponti/Zimansky/Polasek fanden nach dem virtuosem Ton von Saint-Saens, dem impressionistisch-verfeinerten Ravel, bei Brahms einen dritten, gedämpfteren, gedeckten Ton. Emotionaler Ausdruck ist ihnen nicht Selbstzweck, sondern Energie und Vehikel, Struktur und absoluten Gehalt zu transportieren. Daß sie Scherzo und Finale ein wenig brillant-virtous nahmen, tat Brahms gut, der bestrebt war, verteufelt schweres Zeug zu schreiben, dem man das dann nicht anmerken sollte.

Das Trio ließ sich vom Publikum zu einer satten Zugabe, dem „Geister„-Trio von Beethoven, hinreißen, leider nur zu dessen erstem Satz.

Angesichts derart toller Musiker war das Konzert fast peinlich spärlich besucht. Wir lernen: Das Publikum rennt in Sachen Kammermusik nur zu Soloabenden groß aufgemotzter Stars. Die Planer des Kammermusiksaals wiederum lernen vielleicht bald ihr überdimensioniertes Konzept bereuen: Keine Veranstaltung ist so besetzt, daß der alles verwischende Hall verschwindet. Da ist jede noch so ausgefuchste akustische Bauplanung für die Katz. Und die ziselierteste Interpretation auch!

Wolfgang Böhmer