Rollstuhlsport

■ Querschnittsgelähmte drängen in Sportarten wie Segeln, Fallschirmspringen, Drachenfliegen und Tennis

Werner Schneider

Zweimal werden in Seoul die besten Sportler und Sportlerinnen um die begehrten Medaillen kämpfen. Zuerst die kommerzielle, vielbeachtete, weltweit übertragene Olympiade der Fußgänger, und wenig später die (fast) unkommerzielle, wenig beachtete und in den Medien viel verschwiegene Olympiade der Behinderten, Paralympies genannt. Der Behindertensport erlebt seit Jahren einen Boom, speziell der Rollstuhlleistungssport. Querschnittsgelähmte drängen in Sportarten wie Segeln, Fallschirmspringen, Drachenfliegen und Tennis neben traditionellen Rollstuhlsportarten wie Basketball, Bogenschießen, Fechten, Schießen oder Schwimmen. Auch im Wintersport sind erhebliche Fortschritte getan. Skifahren, Langlaufen im Schlitten, Eispiking in einem Kufenschlitten, der auch als Fortbewegungsmittel beim Eishockey dient, heißen hier die Disziplinen. Training

Mit der Präzision eines Uhrwerks spult Errol Marklein seine Runden auf dem Sportplatz von Wiesloch. An diesem Nachmittag fährt er 25 Runden, also 10 Kilometer. 1 Minute 18 Sekunden ist seine schnellste Runde, 1,24 seine langsamste. Dabei sitzt er in einem neuen Rennrollstuhl, den er sich hat bauen lassen, dem Dreirad. Zwei große Antriebsräder, wie gewohnt beim Rollstuhl, sind schon noch dran, der Rest ist gegenüber den bekannten Rollstühlen verändert. Vorne hat der Stuhl nur noch ein Rad in der Mitte, das nicht beweglich ist. Gelenkt wird der Stuhl durch kurzes Anheben und Gewichtsverlagerung. Material: Titan, Gewicht gerade noch 6,5 Kilo. Die dünnen Reifen ertragen einen Druck von 10 Atü.

Errol Marklein geht mit besonderem Ehrgeiz an die Aufgabe Olympia. Er will bei den Hochgelähmten eine Goldmedaille machen. Mittelstrecken und Langstrecken fährt er, nur nebenbei die 42,2 Kilometer lange Marathonstrecke: „Marathon ist mein Hobby. Das mach ich lieber wie alles andere, weil ich da mit Nichtbehinderten zusammen bin.“

Olympia 1984 hatte für die Rollstuhlfahrer nicht stattgefunden. Genau kann es niemand sagen, aber die Gründe lagen im finanziellen Bereich. Eine Version lautet, daß Gelder zur Vorbereitung der Olympiade für Behinderte veruntreut wurden. Die zweite Version ist, daß zu spät mit der Organisation begonnen wurde. Auf jeden Fall wurden die Spiele wenige Wochen vor Beginn abgesagt, Ersatzspiele für Rollstuhlfahrer in England sechs Wochen später durchgeführt. Errol Marklein war zu der Zeit zum intensiven Training nach Kalifornien geflogen, hat dort die guten Trainingsbedingungen nutzen wollen: „Ich las dann in der 'L.A. Times‘, daß die Olympiade nicht stattfindet. Für mich ist eine Welt zusammengebrochen. Meine Motivation war quasi nicht mehr vorhanden. Ich wollte die Medaille gegen die Stärksten machen. Dafür hatte ich trainiert. Alles war auf L.A. zugeschnitten, für England war mein Trainingsplan daneben.“

In der ARD wurde eine Sammlung initiiert, um wenigstens die Ersatzspiele in England möglich zu machen. „Deutschland sammelt für die armen Behinderten, damit die ihre Spiele machen können“, ärgert er sich noch heute. „Aber eben das war es nicht für mich. Wenn wir gesellschaftlich so anerkannt gewesen wären, wie ich damals dachte, hätte ein Aufschrei erfolgen müssen. Für mich kam eine Ersatzveranstaltung auf keinen Fall in Frage.“ „Ich wollte mich nie hergeben oder gar trainieren für eine Veranstaltung, mit der ich Mitleid errege. Das war mir immer völlig fremd. Ich wollte mich vielmehr von diesem Klischee abnabeln, eben keinen Kommunikationssport oder Rehabilitationssport machen, sondern verstand mich als Leistungssportler. Alles hat gestimmt, Training und Material. Aber das hat doch keinen interessiert.“

Daß ausgerechnet in einem der reichsten Länder der Erde die Olympiade der Behinderten wegen Geldmangel ausfiel, ist schon makaber. Schirmherr der Veranstaltung war Ronald Reagan. Es wäre für ihn wohl ein Leichtes gewesen, im Fernsehen und Rundfunk zu Spenden für die Austragung zu sammeln. Schadensklassen

In den nächsten Monaten wird Errol Marklein verstärkt trainieren, seinen Job auf halbtags reduzieren und sich auf die Weltspiele einstellen. Dabei wird er wie viele andere noch ein Hindernis überspringen müssen: das Kontingent für Rollstuhlsportler ist in Seoul begrenzt auf 1.000 Betten. Für die bundesdeutschen Rollstuhl-Leichtathleten stehen 21 Plätze zur Verfügung. Ob sie will oder nicht, Christl Wittmann, Fachwartin für Leichtathletik im Deutschen Rollstuhl-Sportverband, wird sieben müssen. Bisher haben sich für die 1.000 Rollstuhlfahrerplätze 1.400 SportlerInnen gemeldet. Daher hat der internationale Verband als erste Maßnahme beschlossen: Disziplinen, die nicht mit mindestens sechs Teilnehmern aus sechs verschiedenen Nationen belegt sind, werden ersatzlos gestrichen. Zwei Kriterien bedingen, daß bisher die nationale und internationale Konkurrenz noch relativ klein ist. Zum einen ist der Leistungssport der Behinderten noch ein junger Sport. So fahren beispielsweise Tetraplegiker erst seit Anfang der achtziger Jahre den Marathon. Zum zweiten gibt es die notwendige Einteilung in Schadensklassen. So wird in Seoul, vorausgesetzt, es gibt genügend Teilnehmer in den Disziplinen, pro Wettkampf 72 Goldmedaillen vergeben. Je 36 Schadensklassen für Männer und Frauen kennt die internationale Regel. Dabei gibt es fünf verschiedene Listen: die der Amputierten, der Sehgeschädigten, Verletzungen des Zentralnervensystems und Querschnittsgelähmte (Para- und Tetraplegiker), als fünfte Gruppe alle weiteren Behinderungen (Les Autres). Innerhalb dieser Schadensgruppen wird dann unterschieden je nach Grad der Behinderung.

Beispielsweise ist es von erheblicher Bedeutung, ob ein Querschnittsgelähmter ab Rücken-, Brust- oder Halswirbel gelähmt ist, denn das bestimmt seine Möglichkeiten, mehr oder weniger Körperteile, besonders Muskeln einzusetzen. Sprünge

Einen typischen Weg zum Leistungssport ging Hans Lübbering. Er, der laut Trainerin Wittmann „seit Jahren konstant zur Weltspitze gehört“, ist durch einen Kopfsprung in die Nordsee vor 20 Jahren querschnittsgelähmt. Nach der medizinischen Rehabilitation kam er 1971 nach Heidelberg -Schlierbach in die Orthopädie und damit zum Rollstuhlsport. Tischtennis, Bogenschießen und Schwimmen waren damals seine Disziplinen. „Der Charakter der Behindertenolympiade 72 in Heidelberg war der des Rehabilitationssportes, es war noch kein Leistungssport.“ Hans Lübbering hat bis 1980 nur Freizeitsport betrieben und begann erst mit 30 Jahren diesen zum Leistungssport auszuweiten. Heute ist er Weltrekordhalter bei allen Renndisziplinen zwischen 100 und 10.000 Metern in seiner Schadensklasse.

Aber über Rekorde und Medaillen sprechen die Rollstuhlathleten wenig. Manche wissen ihre Rekordzeiten kaum. Sie verweisen auf die enorme Steigerung ihrer sozialen Mobilität und Eigenständigkeit durch den Sport. So betonen sie zuerst die persönlichen Vorteile, die der Leistungssport brachte: „Ich habe dem Sport sehr viel zu verdanken. Zum Beispiel Autofahren, alleine einsteigen, den Rollstuhl selber einladen, eigenständig wohin fahren - das war vorher undenkbar. Aufgrund des Sportes, der Kräftigung der Muskeln, die ich noch hatte, habe ich riesige Fortschritte gemacht und die Selbständigkeit vorangetrieben“, meint Heini Koeberle, für Seoul designierter Olympionike. Hans Lübbering sieht sein Engagement im Leistungssport so: „Der Leistungssport ist für mich Hobby. Wie andere Leute Camping machen oder ihr Fotohobby haben und wieder andere in ihre berufliche Karriere investieren.“ Hinzu kommt, was Nationaltrainerin Christl Wittmann so skizziert: „Daß der Rollstuhlfahrer eher zum Leistungssport kommt, hängt mit der Notwendigkeit seiner Selbstbestätigung zusammen. Der Rollstuhlfahrer hat viel mehr Hindernisse im Alltag zu bewältigen. Der Amputierte beispielsweise mit einer Prothese ist integrierter in die Gesellschaft, nicht so auffällig wie der Rollstuhlfahrer.“ Und dies, so Frau Wittmann, sei mit ein Grund, warum die Leistungsträger innerhalb des Deutschen Behinderten Sportverbandes die Rollstuhlfahrer sind. Rückkehr in die Normalität

Alle meine Gesprächspartner betonen immer wieder: der Leistungssport eines Rollstuhlfahrers soll so normal akzeptiert werden wie jeder andere Leistungssport auch. Aber - vieles ist noch anders. Nehmen wir das Beispiel Hamburg -Marathon am 24.April 1988: es ist einer der größten Marathone, die in der Bundesrepublik gestartet werden. Die Ausschreibung erfolgte sowohl für Fußgänger als auch für Rollstuhlfahrer. Auch ein Preisgeld für die Rollstuhlläufer ist ausgesetzt, im letzten Jahr waren es 800 Mark. Hans Lübbering war Teilnehmer, wie viele seiner Rollstuhlkollegen auch. Er schwärmte hinterher von der Atmosphäre, den mitreißenden Zuschauern, der guten Organisation. Als dann am Sonntag mittag der Südwestdeutsche Rundfunk seine Radioreportage über den Hamburg-Marathon brachte, war von den Rollstuhlfahrern keine Rede. Es wurden die Läufe bei den Fußgängern beschrieben, bei Männern und Frauen die Sieger benannt und interviewt. Auch hat sich der Sportreporter nicht nehmen lassen, die Zahl der verbrauchten Schwämme zur Kühlung der Athleten, die Masse der getrunkenen Erfrischungsbecher aufzulisten und über den Einsatz der Sanitäter am Rande zu berichten. Daß aber parallel zum Marathon, zeitversetzt wie immer und notwendig, weil verschiedene Tempos gefahren werden, auch die Rollstuhlfahrer starteten und Georg Golombeck der strahlende Sieger war, davon war kein Wort zu hören.

Selbst 'Sport-Bild‘, die Mittwochs drauf erschien, würdigte den Marathon mit keiner Zeile, und das, obwohl die 'Bild' -Zeitung Hauptsponsor in Hamburg war. Und immer wieder die caritativen Sendugen wie Aktion Sorgenkind und Danke schön. Hans Lübbering dazu: „Auch wenn diese Aktionen sinnvoll sind: vom Leistungssportgedanken her betrachtet gehören wir in die Sportsendungen.“ Verbandsstrukturen

Die Rollstuhlfahrer und -sportler haben erst seit zehn Jahren eine eigene Lobby, den Deutschen Rollstuhl -Sportverband, der gleichzeitig ein Fachverband des Deutschen Behinderten-Sportverbandes ist. Etwa 2.500 sind in mehr als 100 Vereinen des DRS organisiert. Der DRS gibt auch monatlich die Informationsscshrift 'Rollstuhlsport‘ heraus. Ziele und Wege des DRS stehen nicht immer mit denen des DRS in Einkalng. „Die Versehrtensportgruppen sind bei uns total überaltet, das stößt Jugendliche sowieso ab. Und es sind hauptsächlich Amputierte und Sehgeschädigte, mit denen will der Rollstuhlfahrer prinzipiell nichts zu tun haben.“ Die Einschätzung von Trainerin Christl Wittmann beruht zum Teil auf ihren Erfahrungen als Funktionärin. Der Kontrast zwischen jungen Menschen, die durch Sport- oder Motorradunfälle an den Rollstuhl gebunden sind und den Verbandsführern, die zum Teil noch aus der Kriegsgeneration stammen ist erheblich. Der Versehrtensport der Nachkriegszeit kennt viele Kriegsteilnehmer, die mit amputierten Gliedmaßen nach Hause kamen oder Sehgeschädigte sind, „sie kennen keine Rollstuhlfahrer, die leben schon lange nicht mehr. Die hatten damals maximal fünf Jahre Lebenserwartung“, stellt Frau Wittmann fest und zeigt an einem Beispiel sehr deutlich auf, daß zwischen Hochleisungssport und Versehrtensport eben ein Krieg und eine Generation liegt: „Ich kann Ihnen das gar nicht richtig beibringen, meine Gefühle, wenn ich in Funktionärsgruppen komme und dann heißt's: Kamerad Wittmann. Ich bin doch kein Kamerad. Ich war nicht im Krieg. Ich bin eine Frau.“

So fordern denn auch die jungen Sportler zeitgemäßere Präsentationen vom Verband. „Da brauchen wir eventuell neue Leute, ein neues Management, die moderner rangehen, wie die Manager im Tennis oder Fußball. Ich will mich aber nicht abkoppeln von diesen Kameradschaftsabenden“, so Hans Lübbering, „jeder für sich hat seine Daseinsberechtigung.“ Durch die weltweiten Kontakte auf sportlicher Ebene haben sich auch andere Möglichkeiten aufgetan, Botschafter für eine zunehmende Integration der Behinderten zu sein. Errol Marklein, durch seinen Job als Auslandsvertreiber einer Rollstuhlfirma eh ständig auf Achse und in der Luft, wurde kürzlich von einer Fluglinie eingeladen. Seine Aufgabe bestand darin, wie sie mit wenigen Handgriffen und Hilfestellungen Rollstuhlfahrern das Reisen mit dem Flugzeug erleichtern können. Und die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) sandte ihn kürzlich nach Jordanien, um in einem Lehrgang die Möglichkeiten des Rollstuhls beim Sport vorzustellen. Das allein sind natürlich Riesenerfolge, bedenkt man, daß eben keine 20-25 Jahre zuvor der Rollstuhlfahrer sein Dasein abgeschoben in irgendeiner Küche fristete und seine Lebenserwartung sehr gering war.