: TAGESMÜLLEREI FOLGE IV-VI
Ich schau Dir in die Werke, Heiner - Chronik der laufenden Ereignisse ■ Wie alles anfing
Der Heiner-Müller-Fan-Club trifft sich zur Zeit unter dem Motto „Gesammelte Irrtümer“ täglich bis 10. Juli flächendeckend an neun (9) verschiedenen Orten (West) zur umfassenden Fragmente-Jagd eines Dichters (Ost). Während im Hebbel-Theater, in der Theatermanufaktur im Metropol, in der Hochschule der Künste und im Schloßparktheater dreizehn (13) Theater aus zehn (10) Ländern (Belgien, Nord-Rhein -Westfalen, Italien, Holland, Bulgarien, Griechenland, Polen, Hessen, Frankreich und West-Berlin) in circa fünfzehn (ca. 15) Werke schauen lassen, wird sich gleichzeitig noch auf dem Landwehrkanal verkünstelt, im Ballhaus Rixdorf verlesen, im Kutscherhaus begegnet (Auge in Auge mit dem Video-Band, Ohr in Ohr mit dem Wissenschaftler und Lippe an Lippe mit Müllermüllern), und des Meisters Lieblingsfilme werden im Arsenal abgespult, und sein Lieblingswhisky im Cafe Mora runtergespült. Was bisher geschah
I. Folge: Der Auftrag vom Theatre Varia, Brüssel - wegen Flucht des Rezensenten vergessen und vorbei.
II. Folge: Verkommenes Ufer/Medeamaterial/Landschaft mit Argonauten vom Theater Rosas, Brüssel - Tango Erich wirbelt Paulabiest 70 Minuten über die Bühne als Carmenadaption Made in GDR.
III. Folge: Mauser/ Bildbeschreibung vom Schauspiel Essen Siehe taz von gestern.
IV. Folge: Wolokolamsker Chaussee I-V vom Theatre Bobigny, Paris - Ganz musikpalastmäßig ordnen sich im Metropol vier Herren um vier Notenständer und parlieren abwechselnd gediegen conversierend kammerorchestral von allerlei russischen und deutschen Panzern im larmoyanzfreien Raum. Soweit, so nett. Doch dann kommt leider doch noch das multimediale Gymnastikprogramm mit Filmleinwänden von oben, Lautsprechern von ganz oben und Schauspielern von ganz, ganz oben auf der Beleuchtungsbrücke der Disco und mit Scheinwerfern von ganz unten, die das Erhabene der Avantgarde ins rechte meditative Licht setzen. Heute nochmal im Metropol um 21 Uhr.
grr
V. Folge: Germania Tod in Berlin von der Marburger Theaterwerkstatt Feuerzange -Heiter und selbst mitbestimmt begann der Abend seiner Absicht zu entsprechen: „In der Kommunikation zwischen Publikum und Bühne wird das Theater Ort kollektiver Produktion neuer szenischer Konstellationen durch nicht standarsierte Handlungen.“ Das handlungsfähige, herzliche Berliner Publikum, bekannt für seine spontane Großzügigkeit und erschienen in der Überzahl, spielte sofort mit: Stühle holen und Plätze suchen, vor der ersten Reihe eine neue erste aufbauen, was die vormalig Ersten in der dritten Reihe im spontanen Zugriff ihre Stühle bewegen ließ, um spielerisch die Formierung der ersten Reihe wieder und wieder zu gestalten. Mit der aus größeren Sportarenen bekannten „Olympia-Welle“ wurde für kurze Zeit ein älterer Traum wahr: Theater muß wie Fußball sein.
Die treffliche Truppe aus Marburg muß auch im weiteren Verlauf des Theaterabends, in den sie bald mit ihren schon inszenierten Szenen selbst eingriff, heiter gestimmt haben. Einzig die Improvisationskunst der SchauspielerInnen sollten die geübten Einstellungen neu verkitten, abhängig von der Stimmung im Publikum und im Ensemble, in feiner Wechselwirkung aufeinander abgestimmt. Die gnadenlose Heiterkeit ließ Müllers „Germania“ in komödiantische Spielwut ausbrechen, was den „Tod in Berlin“ amüsant zur wiederholten sinnlichen Erfahrung werden ließ.
Walter-Lehmann
VI. Folge: MAeLSTRÖMSÜDPOL auf dem Landwehrkanal - Auf einem Boot drängt man sich gespannt ans Kulturguckertum. Mücken wimmeln vor und hinter einem schwarzgerahmten Durchguckleinwandnetz, das von hinten grell angestrahlt wird. Mücken in schwüler Verwirrung kreisend, als würde man in einem dieser runden Rummelplatz-3-D-Kinos sitzen, in dem die Mücken eben - offensichtlich unterliegt man einer Täuschung, daher auch der Schwindel - weiß angestrahlt in einem simulierten Raum herumschwirren. Mit ein bißchen Phantasie werden herumwirbelnde Sterne daraus, wie Sterne eben so herumwirbeln. Das dauert so seine Zeit und war schon das beste, was Erich Wonder, Heiner Goebbels und Heiner Müller für satte 24,- DM zu bieten haben.
Das Boot legt zu meiner Enttäuschung nicht ab, als die Scheinwerfer ausgehen. Die Mücken stürzen sich auf die Zuschauer; ein lautes, stetig anwachsendes Getöse setzt ein, in das sich die Rede von fürchterlichen Katarakten mischt. Da vorne kommt langsam ein Licht, ein Schiff, eine Leinwand, die Silhouette des übriggebliebenen Seemanns, der „gescheiterten Hoffnung“ (Caspar David Friedrich), der am Bug seines Schiffes durch Videospiellandschaften dahingleitet. Eine helle, schnarrende Stimme präsentiert Versatzstücke aus dem „Mahlstrom“ und dem „Abenteuern des Arthur Gordon Pym“ (Edgar Allan Poe). Es wird berichtet von unmäßig warmem Wasser milchiger Färbung, Aschenregen und Kliffen, hinter denen sich ein wirres Chaos flüchtig verschwommener Gestalten bewegt. Insel des großen Blutbades, rote Leinwand, Vogelgezwitscher, eher gedämpft aggressiver Industriejazzrock. Schlechtes LSD-Programm halt. Draußen am Ufer pfeifen die Zuschauer oder wiederholen besondere Blödheiten. Das Leinwandboot kommt näher, es ist so langweilig, bis daß die Stimme das „S“ als „TSSS“ betont. Etwas flackert, irgendwo eine Photographie, ich denke ficken, und daran, daß Heiner Müller in der Juni-'Titanic‘ Platz 6 der sieben peinlichsten Persönlichkeiten belegt. Für indezente Erzählungen: Die mannstolle Rotblonde hätte wütend ihren Pelzmantel ins Kaminfeuer geworfen, „weil Müller sich ihrem Drang verschloß, ihn vor allen Gästen zu felationieren“. Die Boote treffen sich schließlich. Ein paar Sätze noch zwischen der Getösemusik, über Leichname, die man in seinen Garten pflanzt, ein ungerührter Schäferhund vor der Leinwand (betäubt? Schering?). Dann trennen sie sich wieder. Zwischen ihnen schaukelt kühl eine Cola-Dose in den Wellen. Eine überflüssige Dreiviertelstunde „Geschehnisräume“ (Motto) - lächerlich eh - und dem an solchem Interessierten sei empfohlen, sich ein Buch von H.P. Lovecraft einzupacken, White Noise „In the Electric Storm“ in den Walkman zu legen, ans Kubat-Dreieck zu gehen und die Nacht abzuwarten. Noch bis 3. Juli tägl. 22.30 Uhr am Landwehrkanal, Wienerstraße.
Detlev Kuhlbrodt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen