Zeitgemäßes Philosophieren?

■ „Denken, das an der Zeit ist“ - Gespräche mit deutschsprachigen Philosophen

Einem Denken, das an der Zeit ist, spürt Florian Rötzer in 19 Gesprächen mit deutschsprachigen Philosophen nach, die mehrheitlich nicht zu den akademischen Mauerblümchen zu zählen sind. Der Titel markiert die Spannung, der die Gespräche durchweg ausgesetzt sind: Zwischen einem Denken, das an der Zeit und kaum mehr als deren Ausdruck ist und einem Denken, das an der Zeit wäre, zwischen modischer Zeitgemäßheit und kritischer Unzeitgemäßheit sind die Grenzen oft genug fließend. Die unvermeidliche Willkür der Auswahl ist in einem Punkt mit dem Hinweis darauf, daß in Zeiten postmoderner Zerstreutheit Sammelbände wie dieser als getreuer Abdruck der geistigen Situation notwendigerweise Konjunktur haben, nicht zu entschuldigen: Nicht eine einzige Philosophin kommt zu Wort! Florian Rötzer tritt die Flucht nach vorn an, registriert diese „Leerstelle“ ausdrücklich und bekennt sogar ein, sie sei „nicht zu entschuldigen“. Das angegebene Motiv, nicht eine oder zwei Frauen als Feigenblätter mißbrauchen zu wollen, in allen Ehren! Die als Bescheidenheit auftretende Abstinenz jedoch entpuppt sich in ihrer Unbescheidenheit, wenn Rötzer seine Flucht mit dem Räsonnement garniert, Philosophie sei, weil traditionell ein „männliches Territorium“ argumentativer Selbstbehauptung, möglicherweise „wirklich eine männliche Domäne“. Anstatt in postargumentativer Unbestimmtheit seine Probleme mit Philosophinnen - nicht zu artikulieren, hätte er besser daran getan, unter den tatsächlich (viel zu) wenigen bestallten Philosophinnen sich nach Gesprächspartnerinnen umzusehen.

Lichte der in jedem Gespräch wiederkehrenden Fragen Rötzers nach der Realitätstüchtigkeit der Philosophie konturieren sich Motive und Intentionen der Befragten mitunter schärfer als im innerphilosophischen Diskurs. Das macht den vielleicht nicht geringsten Reiz dieser - alphabetisch geordneten - Galerie aus.

So ist es beispielsweise ernüchternd, zu lesen, wie Dieter Henrich, für seine ambitionierte Revitalisierung des Deutschen Idealismus bekannt, den seiner Ansicht nach für die Moderne schlechthin konstitutiven Zusammenhang von Selbstbewußtsein und Selbsterhaltung an der Wechselwirkung von Atomenergie und Weltraumeroberung einerseits und dem „neuen Bewußtsein von der Fragilität des irdischen Lebens“ andererseits illustriert.

Einem ähnlichen Deutungsmuster folgen erkennbar die meisten der in den Band Aufgenommenen: Die gegenwärtige Zeit biete gerade wegen der von ihr hervorgebrachten Katastrophen oder Gefährdungen (je nach Einschätzung) die Chance einer kritischen Selbstbestimmung, die langfristig, falls die endgültige Katastrophe keinen Strich durch die Rechnung macht, in neue Balancen einmünden könne. Hier treffen sich: die das „Andere der Vernunft“ befreien wollenden Brüder Böhme, der das „Nicht-Artikulierbare“ als Bedingung, nicht bloß als Grenze des Begreifens anerkennende Dieter Henrich, der die Einbildungskraft innerhalb einer noch zu erarbeitenden „Logik des Paradoxalen“ in den Rang einer Erkenntniskraft (wieder) einsetzende Dietmar Kamper, der das Prinzipielle verabschiedende, das Zufällige und Plurale verteidigende und die geistige Kompensation der technisch -wissenschaftlichen Überbeanspruchung des Menschen verfechtende Odo Marquard, der eine „religiöse“ Erneuerung des Naturverhältnisses propagierende Robert Spaemann und sogar der die philosophische Reflexion als eine Art Psychoanalyse der Menschengattung verstehende Klaus Heinrich - um nur einige zu nennen.

Vermutlich alle der von Rötzer Versammelten dürften den Satz Peter Sloterdijks unterschreiben: „Man muß neue Verbindungen zwischen der Vernunft und dem Können suchen, die über die Selbstgefährdung der Vernunft hinausreichen.“ Als kleinster gemeinsamer diagnostischer Nenner schält sich in den Gesprächen - quer zu den vertretenen philosphischen und politischen Couleurs - die Defizienz und Destruktivität der wissenschaftlich-technischen Zurichtung der Welt heraus. (Allein der kritische Rationalismus eines Hans Albert und die Wissenschaftstheorie eines Wolfgang Stegmüller scheinen hier optimistischere Annahmen zu zeigen.) Freilich differieren die Positionen, die Aufzählung deutet das an, im Hinblick darauf, wie sie den Ist-Zustand, wie den Soll -Zustand, was als erkenntnisauslösende Selbsterfahrung begreifen und wie weit sie die „Krisensituation“ als Selbstinfragestellung zulassen. Damit ist zugleich der politische Gehalt der philosophischen Stellungnahmen, in denen sich fast durchweg so etwas wie ein Übergangsbewußtsein ausspricht, berührt. Mag das Wohin der von Rötzer protokollierten „Suchbewegungen“, aufs Ganze gesehen auch ungewiß sein, im einzelnen lassen sich diejenigen, die wie Spaemann auf die „Rückkehr zu einer Art Normalität“ setzen, vo denjenigen unterscheiden, die der aufblitzenden Erkenntnis inmitten der Katastrophe mehr und ganz anderes zutrauen als die auf vormoderne Üblichkeiten vertrauenden konservativen Krisengewinnler. Die jede, nicht allein unsere Zeit als Frist begreifende Apokalyptik Jacob Taubes‘ formuliert gleichsam den Abschlußgedanken solcher Kritikperspektiven, die wie die Kampers, angesichts einer radikalen Niederlage (der Vernunft nämlich) ein radikales Nachdenken empfehlen. Daß sich auf diese Weise eine philosophische „Rechte“ von einer philosophischen „Linken“ (und einer „Mitte“?) trennscharf abheben ließe, muß allerdings bezweifelt werden.

Die Lektüre der Gespräche hinterläßt den Eindruck, als sei die Frage nach anderen Formen der Rationalität, in welche Rötzer die von ihm registrierte postmoderne „Suchbewegung“ auch innerhalb der westdeutschen Philosophie immer wieder zusammenzieht, zu abstrakt, als daß sie neue Erkenntnisse zutage fördern vermöchte. Die meisten der befragten Spezialisten fürs Allgemeine ließen sich lediglich zu einer Selbstdarstellung, nicht zu einer Selbstkritik provozieren. Das schmälert den Informationsgehalt der wiedergegebenen Gespräche nicht, auch nicht ihren gelegentlichen Unterhaltungswert. Es mutet aber dennoch merkwürdig an, daß viele der zur Rede Gestellten nicht nur sagen, was sie - je nach akademischer Generation - bereits zehn, zwanzig und mehr Jahre zuvor gesagt haben (das tun fast alle), sondern dies heute in dem Bewußtsein sagen (dürfen), jeder postmodernen Infragestellung gewachsen zu sein.

Ob dies gegen die Annahme einer von der Moderne wirklich unterscheidbaren postmodernen Bewußtseinskonstellation spricht oder gegen die Selbsteinschätzung der Befragten, ließe sich nur klären, wenn Rötzer seinen Vorbegriff von „Postmoderne“ und dem, was an der Zeit sei, genauer bedacht und zur Diskussion gestellt hätte. Das hätte etwas anderes sein können als die „Synthese“ der ihm gegebenen Antworten, die ihm noch fehl am Platze schien.

Uwe Justus Wenzel

Florian Rötzer „Denken, das an der Zeit ist“, Suhrkamp -Verlag 1987, 345S., 18 DM