Die Gesetzesbrecher der Perestroika

Während im Großen Kongreßsaal des Kremls noch über den Sozialismus debattiert wird, praktiziert ein Moskauer Institut schon die freie Marktwirtschaft  ■  Aus Moskau Erich Rathfelder

„Es müßte eine bürokratiefreie Zone geben“, wünscht sich Valentin Fjodorow in seinem Büro im siebten Stock eines Moskauer Hochhauses. „Und in dieser Zone, die vielleicht 500 km nördlich und südlich der Baikal-Amur-Magistrale verlaufen könnte, sollte völlige Freiheit herrschen. Dann könnte endlich etwas Neues geschaffen werden.“ Wer glaubt, mit einem Tagträumer zu tun zu haben, sieht sich jedoch getäuscht. Der um die fünfzig Jahre alte Mann gilt in der Sowjetunion als Wissenschaftler der seriösen Sorte. Er ist Ko-Rektor der Plechanow Universität für Volkswirtschaft, einem über 81 Jahre alten renommierten Ausbildungsplatz für Wirtschaftsfachleute. Und sein Vorschlag wird ernsthaft in der Presse diskutiert.

Für Valentin Fjodorow müßten viele heilige Kühe geschlachtet werden, wenn die Parteikonferenz wirklich einschneidende Maßnahmen beschließen würde. Immer noch befürchtet er, daß die reformerischen Impulse und die Gesetze wie das über die Kooperativen von der Bürokratie unterlaufen werden. Aber es dürfte nicht noch einmal so kommen wie 1965, als die Reformen im Dickicht der bürokratischen Strukturen versandeten. Gerade deshalb seien die Wissenschaftler dazu aufgerufen, ihre Thesen zu radikalisieren und zur Diskussion zu stellen: „Jahrelang haben wir die Inflation geleugnet, doch in unserem Institut packen wir jetzt verstärkt diese alten Theoriegebilde an. Wir gehen davon aus, daß es wie in der Weltphysik auch eine Weltökonomie gibt, die eine Einheit darstellt“, sagt er, wohl wissend, mit seinen Theorien die Arbeit von Hunderttausenden von sowjetischen Wirtschaftswissenschaftlern zunichte zu machen. „Ob es um die Konvertabilität der Währung und das Floating des Rubels auf einem zukünftigen internationalen Markt geht, wir können über diese Phänomene nur von den kapitalistischen Ökonomen lernen. Wir aber können denen auch etwas geben, nämlich die jahrzehntelange Erfahrung mit dem Plan.“ Das gemeinsame Lachen zeigt, daß der Jux gelungen ist...

Mit Blick auf den Übersetzer schränkt er aber ein: „Ich bin für den Plan und für den Markt. Eine sozialistische Gesellschaft wie unsere wird höchstens zu 49 Prozent aus dem Markt und zu 51 Prozent aus dem Plan bestehen. Da im Kapitalismus die Entwicklung gerade andersherum verläuft, nämlich bis zu 49 Prozent aus dem Plan und zu 51 Prozent aus dem Markt, wären unsere Systeme nur noch von zwei Prozent unterschieden sein. Und diese zwei Prozent sind der dramatische Unterschied zwischen Kapitalismus und Kommunismus.“ Jetzt lacht auch der Übersetzer mit.

Leider wird die Versammlung seine Idee von der freien Produktionszone in Sibirien noch nicht umsetzen, klagt er und erinnert an die viel zu zahmen Theorien seiner Kollegen, die immerhin freie Produktionszonen auf regionaler Ebene vorgeschlagen haben. Die estische und lettische Delegation auf der Parteikonferenz haben sogar explizit den Auftrag, in Moskau für den ökonomischen Sonderstatus ihrer Republiken zu werben. Aber auch das wird nicht durchkommen, schätzen sowjetische Journalisten. Wenn es gelingt, den Betrieben wirkliche Entscheidungsfreiheiten zu garantieren, dann wäre schon viel gewonnen, ist ihre Meinung. „Wir dürfen nicht auf die Beschlüsse von oben warten, sondern müssen schon jetzt Fakten schaffen.“ Valentin Fjodorows Lieblingsthema ist das Verletzen von Gesetzen. „Wenn wir schon mit Sibirien nicht durchgekommen sind, dann doch wenigstens im eigenen Institut. Wir haben hier schon so viele Gesetze verletzt, daß wir reif für das Gefängnis sind. Es gibt nur die Gesetze und die Perestroika. Wenn wir auf der Seite der Gesetze stehen, dann wird die Perestroika verboten. Stellen wir uns aber auf die Seite der Perestroika, dann müssen die Gesetze gebrochen werden.“

Inzwischen ist das Institut zur eigenen Rechnungsführung übergegangen. Die Hochschule lehnt die Subventionierung durch den Staat ab und finanziert sich selbst. Als Hochschule für die Managementausbildung müssen jetzt die Betriebe für die Ausbildung ihres Nachwuchses zahlen. Die zweijährige Ausbildung ist direkt auf die neuen Bedürfnisse der Wirtschaft abgestellt. Die Professoren verdienen doppelt so viel wie üblich. Und diejenigen Studenten, die nicht über einen Betrieb delegiert sind, müssen für die einjährige Vorbereitungszeit aus eigener Tasche aufkommen.

„Wir verkaufen sogar unsere grauen Hirnzellen. Die Forschungsabteilungen der Universität arbeiten direkt im Auftrag der Betriebe.“ Gegen Kasse - versteht sich. Selbst im Ausland ist man schon erfolgreich und hat einen hübschen Batzen Devisen eingefahren. Und das natürlich an der Nationalbank vorbei - das ist nicht legal. Was will aber die Uni mit dem Geld nun machen? „Wir wollen Aktien kaufen, auch im Westen.“ Fjodorows Ideen werden weiter Staub aufwirbeln. Sicher. Er ist aber noch nicht darauf gekommen, für Interviews Geld zu verlangen. Die taz ist noch einmal davongekommen.