„Der Apparat beherrscht die Sowjets“

Vladimir V. Tuftobarow, Professor für internationales Recht am Institut für Staatsrecht an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, zur geplanten Stärkung der Sowjets  ■ I N T E R V I E W

taz: Im Referat von Michail Gorbatschow wurden einige einschneidende Änderungen im sowjetischen Staatsaufbau vorgeschlagen. Die Rolle der Sowjets soll, so haben wir das verstanden, gegenüber der Partei gestärkt werden. Wie sieht denn eigentlich die Rolle der Sowjets heute aus?

Vladimir V. Tuftobarow: Im sowjetischen System gibt es manche Unterschiede zwischen den gesetzlich verankerten Rechten der Sowjets und der Praxis. Das müssen wir beachten. Die Beschlüsse der Konferenz sollen diesen Zustand beseitigen. Laut Verfassung ist das System von unten nach oben so aufgebaut: Unten steht der Dorfsowjet, dann kommt der Stadt- oder der Kreissowjet, dann der Sowjet des Bezirks, der der autonomen Gebiete, der Republiken und schließlich der Oberste Sowjet in Moskau. Es werden Abgeordnete gewählt, für die höchsten Sowjets für fünf Jahre und für die örtlichen Sowjets für zweieinhalb Jahre.

Dann bedeutet der Vorschlag Gorbatschows, alle Deputierten für fünf Jahre zu bestimmen, eigentlich eine Verlängerung der Abgeordnetenzeit und nicht eine Verkürzung.

Ja. Weiter gehört zur Charakterisierung, daß die Plenartagungen in der Regel zweimal im Jahr stattfinden, auf der Ebene des Dorfes ist das aber anders. Jeder Sowjet hat ein Exekutivkomitee, das von den Abgeordneten gewählt wird. Aber dieses Exekutivkomitee hat auch einen eigenen Apparat. Allein in Moskau ist er so groß wie ein ganzes Ministerium. Und das ist auch der Mangel, wie wir meinen. Da regiert nämlich der Apparat über das ganze Organ.

Die Abgeordneten können also nur zweimal im Jahr zusammenkommen, aber der Apparat...

Die Abgeordneten haben laut Gesetz die gesamte Gewalt, doch in Wirklichkeit herrscht der Apparat.

Der Vorsitzende des Exekutivkomitees ist auch Vorsitzender des Sowjets?

Ja, so ist der Zustand jetzt. Der Vorschlag Gorbatschows, den jeweils Vorsitzenden von Sowjets und Partei -Exekutivkomitee personell zu trennen, bedeutet, daß es künftig auf allen Ebenen zwei leitende Personen geben wird. Auf der höchsten Ebene allerdings gibt es diese Trennung schon in den Gestalten von Ryshkow und Gorbatschow.

Aber Gorbatschow hat mit dem Hinweis auf den Willen anderer Genossen vorgeschlagen, die Parteisekretäre zu Vorsitzenden der Sowjets wählen zu lassen. Widerspricht das nicht dem Willen, Partei und Staat zu trennen?

Ich würde sagen, daß alle Vorschläge, die in Gorbatschows Referat gemacht worden sind, vorher diskutiert waren. Es gibt aber auch Ausnahmen. Die Forderung „Alle Macht den Räten“ existiert schon seit über 70 Jahren, und die Vorschläge, mehr Macht an die örtlichen Sowjets zu geben, sind auch schon einige Jahrzehnte alt. Jetzt wird auch vorgeschlagen, die Sowjets mit eigenen Mitteln auszustatten, und das ist wichtig. So sollen zum Beispiel alle Betriebe, die auf dem Gebiet des Sowjets liegen, eine bestimmte Geldmenge an die Sowjets zahlen. Zweitens soll der Sowjet einen Teil der örtlichen Steuern erhalten.

Aber zurück zu den Parteisekretären. Die erhalten ja jetzt mehr Macht, als sie vorher hatten.

Nach der Verfassung geht es gar nicht, es steht in keinem Gesetz, daß die Parteisekretäre Vorsitzende der Sowjets sind. In der Praxis ist es aber so.

Dann ist ja der neue Vorschlag ein alter. In dem Text von Gorbatschow steht doch explizit, daß die Parteisekretäre nach Meinung einiger Genossen „die Sowjets stärken sollen“. Das bedeutet doch, daß die Partei weiterhin in den Sowjets bestimmen will!

Erstmal möchte ich feststellen, daß die zentrale Richtung auf die Trennung beider Institutionen hinausläuft. Und ich betone noch einmal, viele Vorschläge, die im Text stehen, sind ja jahrelang vorher diskutiert worden. Dieser Vorschlag aber nicht. Gorbatschow hat aber klargemacht, daß die Parteisekretäre gewählt werden müssen. Ich betone: Sie müssen gewählt werden. Wie das funktionieren wird, ist eine andere Frage. Nach meiner Meinung wird die Macht nicht gestärkt werden, weil ja auch Parteisekretäre nicht gewählt zu werden brauchen. Auf den ersten Blick geht es bei dem Problem um die Vermehrung der Macht der Partei. Wenn ich es richtig durchdenke, dann ist es aber nicht der Fall.

Interview: Erich Rathfelder