KPdSU bombardiert das Hauptquartier

■ Lebhafte Debatten und heftige Angriffe auf der Moskauer Allunions-Parteikonferenz

Unter den skeptischen Augen der Moskauer schlagen die Diskussionen im Kreml immer höhere Wellen. Die Rednerliste ist lang, die Themenliste länger: die von Gorbatschow vorgeschlagene Stärkung der Sowjets, die Nationalitätenfrage und der Unmut an der Nomenklatur der Parteibonzen. Was Wunder, daß die Konferenz über ihren für heute vorgesehenen Abschluß verlängert werden mußte.

Eine Premiere im Großen Kongreßsaal des Kremls: Wie man es sonst nur von studentischen Vollversammlungen gewohnt ist, begannen die knapp 5.0000 Delegierten der Allunionskonferenz ein langsames, gleichmäßiges und nicht endenwollendes Klatschen, um einen Redner von der Tribüne zu vertreiben, der von der alten Sitte der hohlen Selbstbeweihräucherung nicht lassen konnte. Welch Unterschied zu den Stalinschen Versammlungen, als nur aus einem Grund minutenlang applaudiert wurde: keiner wollte als erster aufhören, aus Furcht, daß dies als Kritik am Generalissimus ausgelegt werden könnte. Diese Zeiten scheinen fürs erste vorbei zu sein. Parteikonferenzen sind wieder spannend. Als die Leningrader Delegation sich für den Bau eines Denkmals für die Opfer des stalinistischen Terrors aussprach, erntete sie breite Zustimmung in der Halle.

In Zukunft wird man sich im Westen auch neue russische Namen merken müssen - in einer Zahl, an die bisher lediglich Leser Tolstoischer Romane gewöhnt sind. Am ersten Tag der Parteikonferenz ragten aus der Masse der Delegierten Persönlichkeiten hervor, die die Welt noch beachten muß. Zum Beispiel der Schauspieler Michail Uljanow, Vorsitzender des Verbandes der Theaterschaffenden, der der Konferenz am Mittwoch einen Höhepunkt bescherte. Er beschwor in seiner Rede die Zukunft der Perestroika in Parallele zur Zukunft des Weltfriedens. Dann gelobte er, daß die sowjetische Presse nicht länger kriecherisch sein werde und sagte: „Eine Gruppe von Leuten hatte ein Monopol über die Massenmedien, und wir wissen, wohin das geführt hat. Jetzt sehen wir, wie eine andere Gruppe schrittweise die Massenpresse in eine Rednertribüne verwandeln will. Wir wollen die Vielfalt der Meinungen. Deshalb ist es notwendig, die Voraussetzungen zu schaffen, um die verschiedenen Sichtweisen kundzutun.“

Im Saal merkte jeder, daß er sich damit kritisch auf die Aussagen von Vorrednern bezog, die von der Presse persönliche Verleumndungen befürchteten. Vor allem auf jene Delegierte aus Usbekistan, denen am Sonntag (siehe taz vom Dienstag) von der Zeitschrift 'Ogonjuk‘ eine Verstrickung in eine Korruptionsaffäre nachgesagt worden war. Dieser Artikel hatte im Land großes Aufsehen erregt. Gerade an dieser Stelle nun wird Uljanow vom Generalsekretär Gorbatschow unterbrochen. Gorbatschow stellt fest, daß es hier um den Kampf zweier Linien ginge - früher habe die eine Richtung dominieren wollen, heute sei es eben eine andere. Uljanow, der allem Anschein nach noch gar nicht fertig ist mit seiner Rede, ist sichtlich erschüttert. Klein und zusammengesunken sitzt er in seinem Delegiertensessel. Die „allgemeine Übereinstimmung zwischen Gorbatschow und Uljanow“, die die sowjetischen Medien gewöhnlich hervorheben, ist in diesem Moment in Frage gestellt.

Den Lacherfolg des Tages - auch das eine Premiere - konnte der Direktor eines Maschinenkombinats, Mironenko, für sich verbuchen, als er sich über die „Blinden und Lahmen“ unter den sowjetischen Naturwissenschaftlern mokierte. Das ist ein beliebtes Thema im akademischen Milieu. Man macht sich Sorgen um den Rückstand der sowjetischen Wissenschaft: „Die Geräte sind veraltet, der Nachwuchs zu verschult“, heißt es. Diese Ansicht vertrat am Mittwoch sogar der als konservativ verschrieene Direktor der Moskauer Universität.

Die Bevölkerung Moskaus steht der Konferenz zwar nicht direkt mißtrauisch, aber doch mit Vorbehalten gegenüber. Generell ist man überrascht über die Lebhaftigkeit der Diskussionen, die vom Staatsfernsehen am Abend übertragen werden. Doch wird bezweifelt, ob sich aus all den Umbaubekundungen auch wirklich etwas ergibt. So wurde am Mittwoch abend ein auf Proletarier gestylter Mann gezeigt, der sich euphorisch zum Verlauf des Tages äußerte, aber auf die Frage, ob eine Rückkehr zur Vergangenheit ausgeschlossen sei, meinte: „Klar, sofern die Parteithesen zu Taten werden...“ Eine Lehrerin ärgerte sich über den Beitrag des Moskauer Parteichefs: „Er redete in einer Art und Weise, die eigentlich der Vergangenheit angehören sollte - so als ob wir in Moskau keine aktuellen Probleme hätten.“ Vielen ist die Abkanzelung von Uljanow, der die mitreißendste Rede des Tages gehalten hatte, durch Gorbatschow negativ aufgefallen.

Ein offenbar bislang von vielen Menschen in den Beiträgen vermißtes Thema ist die soziale Gleichheit. Ein Maschinenbau -Meister sagt: „Vor allem hoffe ich, daß die schreckliche Ungleichheit aufgehoben wird, die in unserem Land existiert. Im Zarenreich gab es Grafen und Schurken, und das wurde beim Namen genannt. Alle wußten, womit sie es zu tun hatten. Jetzt liegt alles im Verborgenen. Wir müssen für irgendeine versaute Wurst Schlange stehen, während andere Leute sich von Dingen ernähren, von denen wir noch nicht einmal den Namen kennen.“ Doch er täuscht sich: Die Nomenklatura wurde bereits zum Thema auf der Konferenz. Allerdings nur im Rahmen eines Komikerprogramms am Mittwoch abend. Dort wurde von dem drastisch gesunkenen Lebensstandard eines Funktionärs erzählt, der ins kapitalistische Ausland versetzt wurde...

Barbara Kerneck/smo