MÜHSELIGE ABENTEUER

■ Teil 2 der Tagebücher des Theaterforschers rah!

KNachwuchsautor rah! sollte zwei Wochen lang jeden Abend ins Theater gehen. Doch schon nach der ersten Hälfte des Reifeparcours war der junge Mann hilflos in den Sümpfen der Selbstzweifel verschollen. Nur sein City-bag mit einer losen Zettelsammlung, einen abgebrochenen Bleistift und einem angenagten Senfglas drin, wurde uns postalisch zugestellt.

Am 11.6. veröffentlichten wir Auszüge daraus, hier jetzt der 2. und voraussichtlich letzte Teil aus den Tagebüchern eines Draufgängers.

8.6.88

Bei der Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch... usw. war der Titel fast länger als die Aufführung von Inter Akt Bertlin. Sehr zuvorkommend. Wohlreduziert, etwas monologistisch und wenig spielerisch und auch ansonsten wie eine Bundesligamannschaft: ein gekaufter ausländischer Spitzenspieler (als de Sade), ein Häuflein einheimischer Kicker. Leider spielte der nicht nur äußerlich kleiderschrankgroße de Sade den etwas schrumpligen Marat an die Wand, und dessen Mörderin war ein völliger Ausfall - von so jemanden möchte ich mich nicht umbringen lassen. Festzuhalten ist: Keine Profilierungs-Dribbings, gute Spielfeldausnutzung und ein kluger Platzwart. Von den angekündigten Dröhnvokabeln „Wahnsinn“ und „Ekel“ waren sie allerdings ein ganzes Eckchen entfernt. Den gab's später zu Hause: die gestern gekauften Pfirsiche haben sich in ein kleinen Biotop mit seltenen Insektenarten verwandelt (besetzen! sezza). würgs.

9.6.88

Gestern den Expeditionsrucksack verloren. Die ganze Arbeit umsonst. In der Redaktion ging keiner ans Telefon, wahrscheinlich vertrinken sie schon meine Prämie, während ich mir den Hintern im Tempodrom abfriere. Die Zwei Tornados standen auf dem Programm, eigentlich müßte es die „Zwei Sturmböen“ heißen - hoffentlich wird der dritte bald wieder gesund.

Letzte Nacht geträumt: Im Führerstand einer Dampflokomotive steht ein hagerer Schauspieler und deklamiert Shakespare, während der Zug mit 180 Sachen auf den Bahnübergang und einen liegengebliebenen Schulbus voller Kinder zujagt. Auf dem Waggons hinter der schnaubenden Lok spielen verschiedene Theatergruppen simultan Tortenschlachten, klassische Morde und den spanischen Bürgerkrieg nach. Im letzten Moment wird der Bus von den Schienen geschoben, dafür steht dort jetzt ein benzingefüllter Tanklaster. Die Schauspieler wittern die Gefahr, springen schnell vom Zug, zerschellen auf dem Bahndamm. Leichenteile und zerdrückte Torten überall, nur der auf der Lokomotive zitiert weiter Macbeth, ein gigantischer Feuerball, dann ist alles vorbei. Grandios.

10.6.88

Erhobenen Hauptes reiße ich mich von Dosenbier und BRD -Italien los, laufe zum Kiezpalast, im sicheren Bewußtsein, ideologisch auf der richtigen Seite zu stehen. Ziemlich alleine: ganze 15 Leute drücken sich auf den Stühlen herum um Rot, Schwarz und Ignorant von dern Schauspielakademie Zürich zu sehen. Man munkelt ja, daß die Autonomen geschlossen hinter der Nationalmannschaft stehen, wegen deren brettharter Einsätze, der ewigen Ausdiskutiererei und den kleinen Revanchefouls .

Trotz Littbarskis schwarzgeränderter Augen, die eindeutig auf exzessiven Beischlaf hindeuten... Tja, da haben sie alle eine erstklassige Vorführung von Militarismus, Atomkrieg und Faschismus versäumt ohne Oberlehrer-Gehabe und Revolutionspädagogik. Ein erstklasssiges Stück (Edward Bond) und ein ziemlich gutes Team. Zürich. Man sollte es nicht für möglich halten.

12.6. 88

Eigentlich hätte das Stück heißen müssen „Die Verfolgung und Ermordung einer Off-Theater-Kritik-Wurstelei, dargestellt durch die Insassen der GEW-Bezirksgruppe Lichterfelde-Süd“. Tat es aber nicht, „Zwischen allen Stühlen“ stattdessen und somit voll daneben, denn selbst sdo ein windelweicher Titel kann noch auf verlogenem Posten stehen. Um wieviel ehrlicher und einleuchtender wäre „Völlig unter dem Tisch“, „Die Scheiße nach Jerusalem“ oder - ja ja ja - gewesen und hätte man bei der Gelegenheit das Zimmertheater Nudelbrett in Nudelholz umbenannt und die infernalische Zusammenballung von Vokalen aus dem Kaffee Graefe zumindest in Kalter Kaffee verwandelt, ja dann. Vielleicht. Kein Mensch sollte mehr als eine Theatervorstellung pro Woche besuchen, eine Rekonvaleszenzzeit von 10 Tagen nach besonders schweren Prüfungen ist empfohlen. Kontraindikationen gegen die Verabreichung mehrerer Inszenierungen sind angezeigt.

13.6. 88

Der pure Sexismus. Der männliche Körper mal wieder nur auf den Arsch reduziert. Ich versteh's nicht. Wie konnte das durchgehen. Yves Musard hatte eigentlich vor, tanzende Projektionen in den Raum zu werfen (wer sammelt die eigentlich immer auf?) aber das war doch nur eine Gogo-Show. Höchste Zeit, daß den Schweineigels vom Eiszeit eine hilfreiche Kommission zur Seite gestellt wird.

14.6. 88

Im zitty stand, daß es heute Ladies Neid zu sehen gäbe. Gab es nicht, oh Mysterien des Veranstaltungswesens, was mach‘ ich jetzt, unschuldig und frischgeduscht. Im Fernsehen kam zum Glück was über Theater und das war grausam genug, das zählt für die Wertung. Irgendein Geschwätz über Süddeutsche Schauspieler, die nach Berlin kommen/kamen. Wurchheia! Stunden später, nach einem zweckgebundenen Betrinknis finde ich die Notizen, eifrig während der Sendung angefertigt:

„Tiergarten-Dorf. Hermann Essig: Truchtelfingen, Pfarrersohn, Leutnant, Lungenentzündung, gestorben 1918. Grab verschüttet, die Pfeife. Carl Zuckmayer, Fabrikantensohn. Fröhliches Nackenheim am Rhein. Hauptmann von Köpenick. Eugen Klöpferer Nähe Heilbronn, Intendant Freie Volksbühne, Schinler, SDR. Birch - Pfeiffer, Dorf und Stadt. „Du mußt jetzt dein Bündel tragen, du hast es dir selbst aufgetan.“ Reichshauptstadt. 1844 Schauspielhaus Gendarmenmarkt, Württemberg. 74 Schauspiele, 1868 tot. Curth Flatow: ... Kontrollierende. Das Geld liegt auf der Bank. Wilhelmine von Willand, Geierwally 1940. B Auerbach, Dorfgeschichten.“

Das gab doch keinen Sinn.

An dieser Stelle wollen wir schließen. Die folgenden Aufzeichnungen sind von schwerer Melancholie durchzogen, die wir dem eventuell immer theaterwilligen Leser ersparen wollen. Nach diesen traurigen Erfahrungen raten wir allen Enthusiasten vor solch exzessivem Theaterbesuch ab.