: Die AL auf der Suche nach der verlorenen Radikalität
■ Birgit Arkenstette, Assi Geese, Christian Ströbele und Udo Knapp streiten über Zustand und Zukunft der AL / Die Perspektiven gehen weit auseinander / Die Liste zerreibt sich zwischen machbarer Realpolitik und radikalen Utopien
taz: Die AL gibt es seit annähernd zehn Jahren. Was hat sich verändert?
Christian Ströbele: Die AL ist in weiten Teilen schon eine
-positiv wie negativ gesehen - sehr etablierte Partei geworden. Sie wird ungeheuer ernst genommen mit ihren alternativen Vorstellungen im parlamentarischen Bereich, aber sie hat, wie es in vielen Stellungnahmen im letzten Jahr zum Ausdruck kam, vieles an Radikalität verloren.
Etablierung, Verlust an Radikalität, das sind sehr äußere Beschreibungen, die wenig über Inhalte von Parteipolitik aussagen.
Chr. Ströbele: Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen. Vor einigen Monaten sollte es vor dem Kammergericht eine Demonstration für die Leute geben, die im neuen 'radikal'-Prozeß angeklagt waren. In der Fraktion der AL wurde damals darüber nachgedacht, ob man denn während eines laufenden Prozesses dort demonstrieren könne, ob das nicht eine unzulässige Beeinflussung sei. Wenn ich zehn Jahre zurückdenke oder nochmal zehn Jahre weiter zurück, wäre eine solche Argumentation damals nicht denkbar gewesen.
Udo Knapp: Du redest so wie Kunzelmann neulich in seinem taz-Interview. Dabei wird der ganze Entwicklungsprozeß der AL oder auch der Grünen auf die angeblich verlorengegangene Radikalität reduziert. Was die AL anfangs für politische Chancen hatte, welche Hoffnungen sie auf sich gezogen hat, und auf welche Weise die in den letzten Jahren verspielt wurden, das vergißt du dabei völlig: Ich meine den Impuls zur Demokratisierung, den Versuch eines neuen Republikanismus. Dieser Impuls wurde zugunsten einer Renaissance von neokommunistischen und neosozialistischen Positionen verspielt.
Birgit Arkenstette: Du meinst, die AL ist nach links gerückt?
Udo Knapp: Ja, auf eine ganz verschwiemelte Weise. Übriggeblieben ist von der AL dabei eine 150-Mann-starke Clique mehr oder weniger technokratisch linker Funktionäre, die geradezu nostalgisch von Radikalität träumen, anstatt über Demokratie heute zu diskutieren.
Assi Geese: Man kann nicht sagen, die AL sei nach links gerückt. Was in den zehn Jahren deutlich wurde, ist die Vielschichtigkeit der politischen Gruppen. Ich denke, in der Alltagspolitik ist die AL zunehmend reformistisch geworden. Sie läßt sich auf die Politik der kleinen Schritte, des Machbaren und des sicherlich auch in einem gewissen Rahmen gar nicht so Schlechten ein. Auf der anderen Seite gibt es nach wie vor eine ganze Reihe von Leuten, die sich mehr Radikalität für die AL als Ganzes wünschen. Der ursprüngliche Impuls der Parteigründung war sicher nicht der, Gruppen und Grüppchen zu sammeln und damit ein bißchen Veränderung durchzusetzen. Der Anspruch, zumindest mein eigener, war, über einen langfristigen Prozeß grundsätzliche Veränderung zu erreichen.
Was ist denn der Gegensatz zum Reformismus? Das ist doch Revolutionsrhetorik aus dem 18. und 19. Jahrhundert.
Assi Geese:Für mich ist reformistisch nicht nur negativ besetzt. Der Gegensatz dazu ist für mich sicherlich nicht die Revolution, sondern ein grundlegender Wandel, der nicht als Massenerhebung, Volksaufstand, wie auch immer sich abspielen wird, sondern als langwieriger Prozeß. Was im Moment in der AL passiert und noch mehr bei den Grünen, ist doch, daß man den Eindruck hat, Reformpolitik sei das Ziel und nichts mehr darüber hinaus.
Birgit Arkenstette: Das Problem bei AL und Grünen ist: programmatisch werden zur Zeit keine großen Schritte unternommen. Zwar hat die AL in Kreuzberg in den letzten Jahren einiges erreicht: Verkehrsberuhigung, Hofbegrünung, Verhinderung von Abrissen, Verhinderung von allzu großen Mietsprüngen. Das alles sind Erfolge, aber man kann sich darauf nicht beschränken. In der Wohnungspolitik muß zum Beispiel grundsätzlich neu nachgedacht werden.
Udo Knapp: Ich finde die Argumentation widersprüchlich. Ich stimme sofort zu, wenn gesagt wird, bei der AL gibt es keine utopische, auf langfristige Veränderung gedachte politische Debatte. Wie ihr aber diesen Mangel begründet, finde ich nicht richtig. Assi sagt, das hat etwas mit dem Reformismus, der Politik der kleinen Schritte, zu tun. Ich glaube, wir haben bisher überhaupt keine Politik der kleinen Schritte gemacht. Wenn man z.B. die autofreie Stadt einführen will, muß die Frage gestellt werden, wo die individuelle Freiheit bleibt. Diese Frage muß man politisch klären, wenn man als Partei agieren will. Man muß doch klarzumachen versuchen, daß man eine Gesellschaft will, in der mehr Freiheit, mehr Individualität (also mehr Autos? d. Korr), mehr soziale Verantwortung existiert und mehr ökologisches Bewußtsein vorhanden ist. Die hauptamtlichen Funktionäre haben hier Politik gemacht, aber für diese Stadt keine Vision entwickelt.
Chr. Ströbele: Ich will etwas viel böseres dazu sagen: Ich behaupte, dieser Gegensatz Reformismus oder grundsätzliche Veränderung läßt sich zuspitzen auf die Behauptung, daß die einen sich um fast jeden Preis an der Macht beteiligen wollen, vielleicht auch, um ein paar Reförmchen durchführen zu wollen, und die anderen sagen, nee, wir wollen da nur mitmachen, wenn wir wenigstens im Ansatz grundsätzliche Veränderungen durchsetzen können.
Mieten, autofreie Stadt. Sind das die Themen, an denen sich heute eure politischen Visionen festmachen?
Birgit Arkenstette: Nee, das sind nur zwei Beispiele. Für mich ist die Gestaltung des Lebens in dieser Stadt wichtig, und dazu gehören Wohnen und Umwelt. Für mich beinhaltet jedes Thema mittlerweile die Möglichkeit von grundlegender Veränderung dieser Gesellschaft. Wenn du an die Autos rangehst, dann veränderst du diese Gesellschaft in grundlegender Weise. Und noch etwas zu deinem Freiheitsbegriff, Udo. Ich habe seit einiger Zeit kein Auto mehr. Seitdem fühle ich mich jeden Tag mehr in meiner Freiheit von den Autos eingeschränkt.
Udo Knapp: Es ist zweifellos richtig, scharf über die Autofrage zu diskutieren. Ich gehe dabei jedoch nicht von vornherein mit so einem klein-kleinen Regelungsmechanismus dran. Ich frage mich, was mit dem Auto verknüpft ist. Mit dem Auto ist doch im 20. Jahrhundert Bewegung, Geschwindigkeit und Mobilität verknüpft. Ich erwarte von denen, die über Reformen reden, daß sie nicht einfach auf eine so technokratische Weise daherkommen und zu Recht sagen, das Auto schränkt die Rechte des Fußgängers ein. Ich erwarte, daß sie das zivilisationsgeschichtlich Neue, also Mobilität, Geschwindigkeit, Bewegung, zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen machen.
Chr. Ströbele: Null-Tarif.
Udo Knapp: Lass mich doch mal meinen Gedanken zu Ende führen. Dasselbe gilt fürs Wohnen. Bevor man über Wohnformen redet, muß eine Partei wie die AL einen Begriff von Urbanität und ein Verhältnis zu typisch städtischem Leben haben.
Chr. Ströbele: Ja, dann sag doch mal in einem Satz, was du machen willst, statt solche hochtrabenden stadtphilosophischen Erörterungen hier zu machen.
Udo Knapp: Nee. Das was ich meine, setzt einen ganz anderen Politikbegriff voraus.(Dann wäre es doch ganz angebracht, diesen mal fester zu umreißen. die k.)
Chr. Ströbele: Aber die AL hat doch die Aufgabe, das konkret umzusetzen. Wir probieren da viel und machen auch viel falsch.
Udo Knapp: Ihr seid eben viel reformistischer, als ihr den Realos immer vorwerft. Ihr selber seid die Reformisten. Nimm zum Beispiel das widersprüchliche Verhältnis der AL zur Altbau-IBA. Oder das widersprüchliche Verhältnis, das ihr zu dieser neuen Form von Wohnungseigentum und kleinen Wohnungsgenossenschaften habt. Das gilt in AL-Publikationen als Entwicklung von neuen Eigentumsformen und wird kritisiert, weil angeblich der soziale Wohnungsbau benachteiligt würde.
Birgit Arkenstette: Udo, du bist pauschal und falsch. Was man reflektieren muß, ist doch, was hat die bisherige Politik - und IBA ist ja die Politik, die die AL bisher im Bezirk gemacht hat - an Positivem bewirkt, und wo hat sie ihre Grenzen. Natürlich sind wir für bestimmte Standards, keine Außenklos mehr etc., aber wenn du dann erlebst, daß die Leute aus ihren Wohnungen raus müssen, weil sie die minimalen Mieterhöhungen schon nicht mehr zahlen können, dann muß man darüber nachdenken.
Udo Knapp: Das ist einfach kleinkariert. Wenn du über IBA -Politik sprichst, dann redest du über Außenklos. Was mich daran interessiert, ist, daß sich die Leute aus diesen Häusern keine Schlösser bauen. Spießig und auf der anderen Seite mit einem großzügigen großbürgerlichen Ambiente.
Assi Geese: Was ich bei dir, Udo, heraushöre: Du wirfst der AL das fehlende Gesamtkonzept vor. Alles ist vereinzelt, punktuell. Für mich stellt sich da zuerst einmal die Frage, ob sich die AL als eine Partei definiert, die etwas entwirft und sagt, das streben wir an, oder ob sie sagt, wir sind ein Teil von verschiedenen Gruppen oder Bewegungen und arbeiten in diesem Rahmen. Wenn man das so sieht, dann stehen verschiedene Sachen möglicherweise zusammenhanglos nebeneinander, die mal klein und reformistisch und mal lautstark und radikal sind. Ganz unabhängig davon, was erreicht werden kann. Die Politik der Herrschenden und ihre Auswirkungen lassen doch kaum noch Zeit, sich hinzusetzen und etwas zu entwickeln, wir können doch nur noch reagieren. Ich hätte gerne die Gelegenheit, das, was ich so ganz allgemein und utopisch im Kopf habe, auf eine Ebene zu ziehen, die der machbaren Politik ein bißchen näher ist. Damit es nicht nur ein Traum von einer wirlich freien Gesellschaft ist und von Nichtvorhandensein von Armut und Gewalt, und ich weiß nicht was. Aber diese Gelegenheit gibts halt nicht.
Ich habe da wirklich 'ne Nachfrage. Mieten, Autos, Neue Armut: all das sind doch zumindest hierzulande Fragen und Probleme, die sozialtechnisch lösbar sind, ohne daß man 'ne „grundlegende“ Veränderung der Gesellschaft braucht. Die Frage ist für mich, was haben AL und Grüne für ein Konzept, um gegen die Neue Armut, die Zweidrittelgesellschaft, Politik zu machen. Und dann frage ich mich, haben AL und Grüne darüber hinaus eine Vorstellung von einer Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, die sich jenseits der Frage nach Reform oder Revolution ansiedelt und andererseits nicht in diese entsetzliche Kleinteiligkeit zerfällt. Mir reicht da keinesfalls euer Hinweis auf eine „Freie Gesellschaft“.
Chr. Ströbele: Die AL und die Grünen haben den großen Gesellschaftsentwurf für die Zukunft nicht. Die Politik der Parteien und auch der AL beschränkt sich hauptsächlich darauf, Probleme des Augenblicks zu bewältigen, dafür Vorschläge zu machen. Das ist auch eine Kritik von mir. Für den Bereich Demokratische Rechte stell ich mir vor, daß die AL einmal eine Vision bringt: Daß etwa in der Psychiatrie, aber auch im staatlichen Repressionsbereich was ganz anders gemacht wird, ganz radikale Geschichten gedacht und irgendwann sogar versucht werden. Daß wir die eigentlich auf der Hand liegenden Lösungen für die großen gesellschaftlichen Fragen wie Arbeitslosigkeit oder Armut überhaupt nicht richtig angehen, das sehe ich auch. Auf der einen Seite ist die BRD so ein reiches Land, egal woher der Reichtum nun kommt, ich meine, den haben sie sich weitgehend gestohlen. Aber in so einem reichen Land könnte einfach durch eine Umverteilung jede Arbeit haben, jeder reich sein. Da fehlt ein großer Entwurf.
Birgit Arkenstette: Wenn ihr sagt, es ist die Aufgabe, grundlegende alternative Gesellschaftsentwürfe in Richtung eines Utopienkonzeptes vorzulegen, dann bestreite ich diese Notwendigkeit. Du, Udo, hast gefragt, warum die AL nicht über eine Zukunftsvision der Stadt diskutiert. Jeder für sich, der Politik macht, hat eine Utopie im Kopf. Ich maße mir nicht an, meine Vorstellung von Zukunft dieser Gesellschaft für allgemeingültig zu erklären. Ich möchte Verhältnisse schaffen, wo die Möglichkeit besteht, daß Menschen ständig miteinander Konzepte von Umgestaltung und Zukunftsentwürfen entwickeln. Wir wollen doch nur einen Rahmen schaffen, keinen globalen Entwurf.
Mich interessiert nach wie vor, auf welches Ziel hin die AL ihre politischen Perspektiven orientiert.
Udo Knapp: Die CDU steht für neokonservative Wende. Die SPD steht nach wie vor für technokratische, an Großprojekten orientierte Krisenbewältigung, verknüpft mit einem Solidaritätsbegriff, der sich an der Arbeiterbewegung orientiert. Die FDP steht für liberal konservativen Egoismus. Wofür stehen AL und Grüne? Diese Frage kann eigentlich, wenn du Leute auf der Straße fragst, niemand beantworten. An dieser Stelle wird die historische Chance der Grünen deutlich, weil sie die einzigen sind, die tatsächlich in der Umweltpolitik zum Beispiel über eine bloße technokratische Bewältigung, wie sie Töpfer und die SPD wollen, hinaus sagen könnten, wie anders wir uns ökologisches Leben vorstellen könnten. Bei der Arbeitsgesellschaft ist es genau dasselbe. Es ist doch gut, wenn wir weniger arbeiten müssen. Wir müssen nur sichern, daß die materielle Sicherheit der Menschen dabei nicht über Bord geht, wie die FDP es will. Dafür müssen wir uns Modelle überlegen und den Atem haben, damit dieses protestantische Arbeitsethos kaputtgeht.
Birgit Arkenstette: Du fragst danach, wofür die AL steht. Ich sage dir, die AL steht erstens dafür, bestimmte Interessen aufzugreifen, die andere Parteien nicht aufgreifen. Zweitens steht sie aber auch für eine Radikalität, wo die Leute sagen, es interessiert mich schon, aber es setzt sich nicht in ein riesiges Wählerverhalten um. Den Leuten ist das teilweise zu radikal.
Udo Knapp: Zwei strategische Momente benennst du: AL -Politik ist Lückenfüllen im Programm der anderen, und das zweite ist, wir verkörpern potentielle Radikalität. Genau die Beschränkung auf diese beiden Punkte ist das, was die Krise von AL und Grünen ausmacht. Das ist eine Form politischer Bescheidenheit, die sich vielleicht nicht an klein-klein orientiert, aber die nichts mehr vom Atem von 68 und den Sozialen Bewegungen hat.
Birgit Arkenstette: Ach, du mit deinem 68. Du Nostalgiker.
Udo Knapp: Das ist keine Nostalgie, wenn man über 68 redet. Lückenfüllen und das Bedürfnis nach Radikalität reicht vielleicht auch auf Dauer für fünf Prozent aus. Wenn man Politik machen will, muß man auch machtpolitische Interessen artikulieren. Wer radikal ist, um nur Gefühle der Menschen zu befriedigen, der hat politisch überhaupt keine Chance.
Birgit Arkenstette: Mit den machtpolitischen Interessen, da stimme ich völlig mit dir überein.
Udo Knapp: Du hast völlig recht mit dem was du als Ist -Zustand der AL-Politik beschreibst. Aber sie hat überhaupt keine Chance, wenn sie nicht diese Elemente aufnimmt, wie wir im Jahr 2000 Berlin, die Bundesrepublik, das nachindustrielle Leben organisieren wollen. Und zwar deswegen, weil wir die einzigen sind, die jenseits der gekennzeichneten Linien der Parteien das auch umsetzen können. Deshalb wollen wir nicht nur ins Parlament kommen, sondern auch regieren.
Birgit Arkenstette: Da rennst du bei mir offene Türen ein.
Das Gespräch führte Max Thomas Mehr
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