„Ich schäme mich, daß so etwas passieren kann“

Am 24.Oktober 1984 wurde ein Sinto in Bochum erschlagen / 1986 wurde der Täter wegen Körperverletzung verurteilt / Erst im Wiederaufnahmeverfahren wurde jetzt auf „gefährliche Körperverletzung mit Todesfolge“ erkannt  ■  Aus Bochum Rita Schnell

Am Donnerstag endete vor der 7.Strafkammer des Bochumer Landgerichts das Wiederaufnahmeverfahren gegen den 34jährigen Schlosser Reiner Schilling. Die Kammer verurteilte den Angeklagten zu einer Haftstrafe von vier Jahren und einem Monat wegen gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge. Das Gericht folgte damit dem Antrag der Staatsanwaltschaft, Schilling hätte den Sinti Johann „Puppe“ Matz in den frühen Morgenstunden des 24.Oktober 1984 im Bochumer Bordellviertel erschlagen.

Schilling war wegen dieser Tat bereits im April '86 zu einer 15monatigen Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt worden. Der Tod des Sinti wurde damals als „Körperverletzung“ gewertet. Das Urteil wurde später von der Berufungskammer aufgehoben und der Fall wegen des Verdachts auf ein Tötungsdelikt zur Neuverhandlung an die zuständige Strafkammer verwiesen.

Der 34jährige Sinti Matz sei, so befand Richter Dietmar Mölder damals in seinem umstrittenen Urteil, nicht an den Folgen von Tritten und Prügeln gestorben. Eine bei der Obduktion festgestellte Herzschädigung der leichteren Art sei vielmehr im Zusammenhang mit Alkohol und Gewalteinwirkung ursächlich für den Tod des bis dahin gesunden Vaters zweier Kinder gewesen.

Richter Mölder erkannte im Verhalten des Angeklagten keinerlei „Hinweise auf eine Tötungsabsicht“. Das Urteil bildete den vorläufigen Schlußpunkt in einem Verfahren, das durch unsensible Verhandlungsführung und verschleppte Ermittlungen für Aufmerksamkeit gesorgt hatte.

Die vorsitzende Richterin der 7.Strafkammer, Dr.Ruth Rissing von Saa allerdings zeigte im Wiederaufnahmeverfahren das erforderliche Einfühlungsvermögen für die Situation der zahlreich im Zuhörersaal anwesenden Roma und Sinti.

Sie gab ihrer Betroffenheit in einer persönlichen Erklärung Ausdruck, als am zweiten Verhandlungstag während einer Prozeßpause rassistische Zettel auftauchten: „Gebt den Sinti und Roma Feuer“, hieß es auf den Blättern neben aufgemalten Galgen und Knüppeln. „Ich schäme mich sehr, daß so etwas passieren kann“, entschuldigte sich die Richterin. Sie entzog auch dem Verteidiger des Angeklagten das Wort, wenn dieser versuchte, mit Fangfragen die Sinti und Roma der Gewalttätigkeit zu bezichtigen. Daß es in diesem Fall überhaupt zu einer Anklage kam, war keinesfalls den Strafverfolgungsbehörden zuzuschreiben. Nicht sie, sondern die Familie des Opfers fand den Täter.Doch die Ermittlungsbehörden ließen sich auch dann noch Zeit, der Täter wurde weder festgenommen noch verhört. Nach einem knappen Jahr stellte er sich freiwillig.

Erst im April '86 konnte die Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht beginnen. Tatzeugen hatten vor Gericht geschildert, wie Schilling mit dem Sinti in einer Frittenbude Streit anfing, wobei er diesen als „dreckigen Türken“ beschimpfte. „Ich schlag‘ dich tot, du Sau!“, „Ich bring dich um!“, so hatte eine Zeugin den angetrunkenen Schilling brüllen hören, während er immer wieder sein am Boden liegendes Opfer ins Gesicht trat. In diesem Verhalten sah Amtsrichter Mölder keine Tötungsabsicht. Der Satz: „Ich schlag dich tot“ werde häufig gebraucht und längst nicht immer in die Tat umgesetzt. Schließlich habe Schilling ja nicht wissen können, daß der Sinti an einer Herzmuskelschädigung litt.

Nach fast vier Jahren wurden im Wiederaufnahmeverfahren die gutachterlichen Stellungnahmen über die mögliche Todesursache anders gewertet. Auch Richterin Rissing van Saan bejahte den Zusammenhang zwischen Gewalteinwirkung, Alkoholisierung des Opfers und Herzschädigung, die zum Tode geführt haben. Es hätte allerdings keinen Grund für Schilling gegeben, anzunehmen, er habe einen kerngesunden Mann vor sich, auf den er in dieser brutalen Weise eintreten und einschlagen könne, ohne daß dieser ernstlich Schaden nehme. „Auch als Laie kann man davon ausgehen, daß Tritte und Schläge gegen den Kopf eines Menschen dessen Tod herbeiführen können“, meinte die Richterin in der Urteilsbegründung. Die Kammer erließ Haftbefehl gegen den Angeklagten. Reiner Schilling wurde noch im Gerichtssaal verhaftet.