VIERUHRFÜNFUNDVIERZIG

■ Jan Fabre zelebrierte Aischylos‘ „Prometheus“

Die Wände des Saals im Künstlerhaus Bethanien waren über und über mit Kugelschreiberzeichnungen verkleidet. Nur die großen Fenster waren frei von den blauen Strichen geblieben, die durch ihr dichtes Nebeneinander in vielen Schattierungen hervortraten und zu seltsamen Formen zusammenwuchsen. Hier wollte der Belgier Jan Fabre das Ergebnis einer zweiwöchigen Seminararbeit im Rahmen der „Werkstatt Berlin“ mit Schauspielern, Tänzern und Sängern präsentieren: Aischylos‘ „Der gefesselte Prometheus“.

Das Faszinierende an dieser Aufführung war die Uhrzeit, die „blaue Stunde“, „Der Moment kurz vor dem Morgengrauen, wenn die Nachttiere schlafen gegangen und die Tagtiere noch nicht erwacht sind“. Um diese Stunden nehmen die Sinne anders und intensiver wahr als nach dem eigentlichen Tagesanbruch, nach einer durchwachten Nacht mehr noch als direkt nach dem Aufstehen. Sich begeistert dieser Zeit des Umbruchs hingeben kann aber nur, wer die „blaue Stunde“ frei wählt oder sie sich zu eigen macht; wer gezwungen wird, die Sinnesorgane schon oder noch wachzuhalten, wird auf alles schöne Gerede von der Metaphysik dieser Stunde dankend verzichten können.

So luftig wie die Wahl der Uhrzeit war auch die Aufführung selbst. Mit dem Rücken zum Saal stand eine junge Frau nackt im Fensterkreuz, neben ihr auf einem Stuhl eine zweite Frau im kleinen Schwarzen und hochhackigen Pumps. Ihnen gegenüber an der schmalen Seite des Raumes krümmte Meister Fabre seinen Rücken, eine Luftballon voller Kugelschreiberstriche in der Hand. An der Längsseite hatten sich fünf junge Männer, nur mit blauen Unterhosen und derben Schuhen bekleidet, im Schneidersitz niedergelassen. Vor der blau bemalten Wand erschien ihre Haut schäbig gelb und krank. So erwarteten die acht ihr Publikum.

Aischylos‘ Text wurde geflüstert. Einem Gottesdienst ähnlich schrieb eine Liturgie den Wechsel der Formeln zwischen den Sprechenden vor. Das Flüstern und die kleinen Bewegungen lullten wie minimalistische Musik ein, die Ungeübte in einen Zustand der wachen Unaufmerksamkeit versetzt und hin und wieder aufschrecken und eine Veränderung zum letzten Moment der Konzentration bemerken läßt. Wenn die Nackte lachte, alle ihre Köpfe gegen Wände schlugen und die Männer den Text in gutturalen Lauten mühsam ausstießen, dann hatte die sitzende Frau ihre Pumps ausgezogen, der Meister ihre Beine geöffnet und die Fäuste geballt. Einem kroch ein grünes Tier den Arm empor. In diesem Rhythmus verloren die Worte ihre Bedeutung, Aischylos‘ Text wurde zu irgendeinem Text.

Längst war die „blaue Stunde“ vorüber, die Sonne ging auf. Orange kroch das Licht über die lange blaue Wand und wuchs und wuchs. Es schien, als müßten sich alle Darsteller in Luft auflösen, als das Licht den ersten Mönch erreichte. Selbstverständlich löste sich niemand auf. Stattdessen fiel laut der Satz: „Kunst ist schwächer als die Notwendigkeit“ und die Nackte fragte lachend: „Wer aber führt das Steuer der Notwendigkeit?“ Ob dieser erhebend bedeutungsschwangeren Ästhetik klatschten die frommen Kirchgänger ergriffen in ihre Gebetsblätter und wollten gar nicht gehen. Aber in einer Kirche wird keine Zugabe gegeben. Zurück blieb verwirrt umhertapsend das kleine grüne Tier, ein Wandelndes Blatt, und fragte sich, was es zwischen all den blauen Linien zu suchen hätte.

Claudia Wahjudi

Die Kugelschreiberzeichnungen von Jan Fabre sind im Künstlerhaus Bethanien noch einmal am 7.Juli ab 19.00 Uhr und vom 8.bis 17.Juli täglich zwischen 14 und 19 Uhr außer montags zu sehen.