ACH DU LIEBE MENSCHHEIT

■ Keine Berliner Lektion von Jewgenij Jewtuschenko und Klaus Maria Brandauer

Kein Alkohol am Vormittag! Jewtuschenko trinkt Milch. „Auch ein Ergebnis der Perestroika“, meint er. Es ist der einzige Satz, der am Sonntag morgen im Renaissance-Theater zu Glasnost, Gorbatschow, der Allunionskonferenz fällt. Klaus Maria Brandauer hat da keine Fragen. Und dem wohl berühmtesten lebenden russischen Dichter Jewgenij Jewtuschenko ist an anderem gelegen. Seine Botschaft für die Berliner: „Auch ich bin ein Deutscher“. Er erzählt die Geschichte von seinem Großvater, einem lettischen Spion, über dessen Vorfahren wiederum er auch „ein paar Tropfen richtig gutes süddeutsches Blut“ in seinen Adern nachweisen kann. Mit Stammbaum. Das begeistert die Berliner.

Überhaupt seien wir ja alle irgendwie miteinander verwandt, und Mütterchen Erde sei krank, und die Grenzen müssen fallen, um der lieben Menschheit willen. Er trägt seine Gedichte vor, auf russisch, auswendig, in knallig großkariertem Hemd und mit menschheitsumarmenden Gebärden. Brandauer liest sie auf deutsch vor. Zum Beispiel das mit der Träne des Kindes aus Paraguay, die verdampft und als Schneeflocke auf die Wange eines Eskimos niederfällt. Was nicht nur den Gesetzen der von Jewtuschenko so geliebten Natur trotzt, sondern auch allen Begriffen von guter Lyrik. Zwei Stunden Humanitätsgefasel und - außer ein paar Majakowski- und Pasternakzeilen über das Berlin der Zwanziger Jahre - schlechte Gedichte: „Für einen Baum ist mit Wahrscheinlichkeit, Grenzpfahl zu sein, die größte aller Strafen.“ Ich fürchte, der Baum ist da leidenschaftslos. In einem anderen Gedicht führt Jewtuschenko aus, daß er gern viele Jewtuschenkos wäre: ein Mönch im Tibet, ein Bettler in Indien, lauter Outcasts aus aller Herren Länder. Bloß Rambo möchte er nicht sein. Als ob der nicht auch ein armes Schwein wäre.

Am Anfang erzählen die Herren sich rührende Geschichten. Jewtuschenko macht Reklame für die russischen Mütter, die den armen deutschen Soldaten beim Einmarsch in Moskau Brot zusteckten, von ihrer eigenen kargen Ration. Er macht Reklame für seinen Film Kindergarten und überhaupt, die Kinder, die liebt er ja. Brandauer seinerseits macht Reklame für Jewtuschenko. Wie schön war es doch, als sie einander zum erstenmal begegneten und am Grab von Pasternak Champagner und guten russischen Wodka tranken.

Der Weltfriede auf Stammtisch-Niveau. Wie es sich am Stammtisch gehört, gehen die Herren auch bald aufs Ganze. Brandauer findet heraus, daß er als Künstler ja eigentlich die Welt verbessern will und es ihm nicht mehr genügt, nur „das Schnittlauch auf allen Suppen“ zu sein. (Mir genügt es, mit Verlaub, wenn er gute Filme macht.) Jewtuschenko pflichtet ihm bei: „Wir Künstler müssen unsere Stimme erheben“ und neugieriege Mitglieder der Gesellschaft sein. Brandauer will, daß allen erlaubt wird, was ihm zusteht: „Wir sehen uns in Cannes, in Los Angeles, in Moskau und Aserbeidschan“, warum eigentlich nur die Künstler und nicht auch die Normalos? Ein VIP-Ausweis für jeden Erdenbürger.

Dahinter steckt ein richtiger Gedanke: die Ideen müssen zirkulieren können, es sei absurd, so Jewtuschenko, daß wir schnelle Flugzeuge, Satelliten und Computer haben, aber ein intellektueller Austausch zwischen Ost und West zu Beginn dieses Jahrhunderts problemloser gewesen sei als heute. Europas Adern seien verstopft, der Kontinent leide an Thrombose. Aber die wenigen lohnenswerten Bemerkungen haben keine Chance gegen den seichten Plauderton.

Nichts gelernt bei dieser Lektion? Doch, eine Kleinigkeit. Wenn Brandauer Jewtuschenkos Gedichte vorliest, zögert er gelegentlich, guckt über den Brillenrand und läßt eine Zeile stocken, ein Versende nachklappern. Wenn ich richtig gesehen habe, gefallen ihm die Gedichte auch nicht. Aber er wird nicht ironisch, sondern bleibt dezent, er mimt Ironie. American understatement, das hat er bestimmt in Hollywood gelernt.

Christiane Peitz