Kommen Sie aus Thailand?

■ Beobachtungen und Anmerkungen zum alltäglichen alteuropäischen sexistischen Rassismus

Long Yingtai

Wohin ich auch gehe, ob es in Zürich ist, wo ich ein halbes Jahr gelebt habe, oder in Deutschland, wo ich oft Verwandte besuche, immer werde ich mit der Frage begrüßt: „Kommen Sie aus Thailand?“ Anfangs war ich verblüfft, warum so viele Europäer annehmen, alle Asiatinnen kämen aus Thailand. Ich sollte es bald erfahren.

In Berlin erzählte man mir, daß „Thaimädchen“ in organisierten Gruppen in Ost-Berlin ankommen und, einmal über die Grenze gebracht, im Westen Prostituierte werden.

In Frankfurt sah ich Neonleuchtreklamen mit der Aufschrift: „Aufregende Mädchen aus Thailand!“ Als ich in Nürnberg die Straße „Hinter der Mauer“ entlang ging, beschimpften mich barbusige Frauen, die aus dem Fenster lehnten, ich würde ihnen die Kundschaft wegschnappen. In Zürich hörte ich einen Mann bis in jede Einzelheit von seiner exotischen Vergnügungsjagd in Bangkok und seinen Kenntnissen über Asiatinnen prahlen.

Immer wieder werde ich mit der freundlichen Frage konfroniert: „Kommen Sie aus Thailand?“ Da ich keine Gedanken lesen kann, muß ich diese Frage als direkte und unschuldige Erkundigung akzeptieren, und antworte deshalb: „Nein, ich komme aus Taiwan.“

Manchmal gibt es daraufhin einen Moment des Schweigens, wenn die Person nicht genau weiß, zu welchem Teil des Erdballs Taiwan gehört. Oft gelingt es dem Nachfragenden auch nicht, den Unterschied zwischen Taiwan und Thailand zu erkennen und er fährt fort: „Kommen Sie dann aus Bangkok? Ich war vor zwei Jahren dort ...“ Einmal sagte ein Schweizer: „Was für ein wundervolles Plätzchen Ihr Land doch ist, Thailand meine ich. Vor allem die Mädchen, wissen Sie ...“ Er zwinkerte mir mit einem vertraulichen Lächeln zu.

Ich erinnere mich weiter. Einmal, im Jahr 1978, ging ich die Hauptstraße von Fort Riley in Kansas entlang. An jeder Kreuzung wurde mir zugeraunt: „Hallo Süße, wieviel nimmst du? Willst du einsteigen?“ Auf eindeutige Anmache konnte ich grob reagieren und zurückschreien: „Hau ab!“ Aber was mache ich mit einem freundlichen Zwinkern und einem vertraulichen Lächeln? Gelegentlich bietet mir ein Interessierter die Chance, mich gegen Anspielungen zur Wehr zu setzen, wenn er weiterfragt: „Was machen Sie hier?“ Ich bin froh, sie oder ihn wissen zu lassen, daß ich nicht käuflich bin, es nie war und sage dann: „Ich bin Journalistin und Schriftstellerin, aber ich war Literaturprofessorin, bevor ich nach Europa kam.“

Noch bevor ich zu Ende gesprochen hatte, korrigierte mich eine Schweizerin mit strenger Stimme: „Sie meinen, Sie haben am Gymnasium unterrichtet.“ Sie starrte mich vorwurfsvoll an. Ich versuchte zu erklären: „Nein, an der Universität, Promotionscolloquien, in den USA und in Taiwan. Im amerikanischen und taiwanesischen Bildungssystem wird jeder, der einen Doktortitel hat und an der Universität lehrt, 'Professor‘ genannt ...“ Ich hielt mich zurück; ihr mißtrauischer Blick bewirkte, daß ich mich wie eine Hochstaplerin fühlte.

Einmal fragte mich in der Sauna ein Deutscher, der neben mir lag, nach meinem Beruf. „Ich schreibe“, sagte ich einfach; ich war inzwischen vorsichtiger geworden. „Was schreiben Sie? Romane?“ „Nein, sozialpolitische Kommentare und Literaturkri-tik.“ Der Mann erhob sich halb von der Liegebank, sah mich an, wurde still und sagte dann: „Sie haben gleich nach dem Gymnasium zu schreiben begonnen?“ „Nein, nicht so früh“, lachte ich; Gymnasium, das hätte bedeutet vor zwanzig Jahren. „Ich habe eher spät mit dem Schreiben begonnen, erst nach meiner Promotion.“ Der Mann sah mich wieder mit einem offensichtlich mißtrauischen und vielleicht verächtlichen Blick an. Er drehte sich um, ohne ein Wort zu sagen.

Mir wurde erst hinterher klar, daß es wahrscheinlich ein zu großer Schock für ihn war, sich vorzustellen, daß die Asiatin neben ihm mehr war als nur ein nackter Körper.

An das Intellektuellenleben in den Vereinigten Staaten gewöhnt finde ich es peinlich, mich mit einem Titel vorzustellen. Ich kann nicht von mir als „Dr. Soundso“ sprechen, ohne mich affektiert und aufgeblasen zu fühlen. In Europa entdeckte ich zu meiner Bestürzung, daß mich niemand ernst nimmt, wenn ich meinen Titel nicht überzeugend präsentiere. Ich bin, wie eine alte Frau aus der Nachbarschaft es ausdrückte, das „nette junge Mädchen aus Thailand“. Ich war von einer namhaften deutschen Universität eingeladen worden, eine Vorlesung über zeitgenössische chinesische Prosa zu halten. Der Dekan, selbst ein Professor, stellte mich den Zuhörern als „Frau Walther“ vor. Der Titel, habe ich in der Zwischenzeit gelernt, ist für die Deutschen nicht von geringer Bedeutung: Man läßt seinen oder ihren Titel nicht weg, selbst wenn man zum Zahnarzt oder zum Bäcker oder zum Busfahrer spricht. Der Dekan wußte, daß ich einen Titel habe, und er hat ihn dennoch weggelassen. Wäre er bei einem deutschen oder amerikanischen Gastredner auch so nachlässig gewesen? Ich bezweifle es. Ich frage mich, ob er nicht vielleicht der Mann aus der Sauna ist.

Wenn ich mit meinem zweijährigen Kind auf der Straße gehe, schlägt mir etwas anderes entgegen. In einem Vorstadtpark von Zürich spielte der rotwangige An-An im Sandkasten, während ich da saß und las. Eine Frau kam näher und sagte: „Was für ein süßes kleines Kind!“ Sie öffnete ihr Portemonnaie, nahm fünf Franken heraus, drückte sie mir in die Hand und sagte: „Kaufen Sie etwas für den Kleinen.“ Sie verschwand mit einem Lächeln.

In einem Kaufhaus in Konstanz schüttete ein Mann alle Münzen aus seiner Geldbörse, zählte sie, es waren ungefähr zehn Mark, und ließ sie in meine Handfläche fallen. „Kaufen Sie etwas für den Kleinen“, sagte er sehr freundlich.

Letzten Monat war ich von der 'China Times‘ zu einem Vortrag in Taiwan eingeladen. Im Flugzeug näherte sich ein Mann An-An und stopfte ein Zwei-Franken-Stück in seine kleine Tasche. „Kaufen Sie etwas für den Kleinen“, sagte er zu mir und strahlte vor guter Laune. Im Flugzeug waren alle Nationalitäten vertreten; neugierig fragte ich ihn: „Woher kommen Sie?“ - „Oh,“ antwortete er, „aus Zürich“.

Bisher habe ich jedes Geldangebot in gutem Glauben akzeptiert. Ich nehme an, daß diese Männer und Frauen mir aus einem einfachen Beweggrund Geld geben: aus Liebe und Zuneigung für einen anderen Menschen, wobei Geld unter diesen Umständen für sie das einzige Mittel ist, ihre Gefühle auszudrücken. Freundlichkeit, ja, habe ich festgestellt, aber nicht ohne Bedingungen. Wenn ich meinen Pelzmantel anhabe, gibt niemand An-An Geld. Und meine Schweizer Nachbarn, ebenfalls junge Mütter mit kleinen Kindern, waren schockiert über meine Erfahrungen. Offensichtlich gibt nie ein Fremder ihren „kleinen Süßen“ Geld. „Ach ja,“ riefen meine Schweizer Nachbarn aus, „sie müssen dich für einen vietnamesischen Flüchtling gehalten haben.“

Also ist es Mitleid in Form von Geld, was sie mir entgegenbrachten. Auch Mitleid ist nobel, nicht wahr? Meine chinesischen Freunde schütteln die Köpfe. Viele von ihnen sehen es als ein Zeichen von europäischem Chauvinismus an, der an Rassismus grenzt. Eine Chinesin, die mit einem Deutschen verheiratet ist und seit zwanzig Jahren in Deutschland lebt, beschuldigte mich, die Chinesen zu beschämen, wenn ich mir Geld von Europäern schenken ließe.

Ich finde das nicht. Ein Europäer schaut mich an und nimmt an, ich sei entweder eine Prostituierte aus Thailand oder eine Flüchtlingsmutter aus Vietnam. Ein Chinese sieht einen Kaukasier und meint, er sei Amerikaner, hätte eine Menge Geld, betrüge seine Frau und behandle seine Eltern schlecht. Eine Professorin aus Manila wurde während ihres Besuches in Hongkong von einem Einheimischen angesprochen und gefragt: „Suchen Sie Arbeit? Wir brauchen ein Hausmädchen ...“ Klischeevorstellungen sind ein weitverbreiteter menschlicher Irrtum, ein Zeichen von Engstirnigkeit und Provinzialismus, aber nicht gleichzusetzen mit Rassismus.

All diese Argumentationen lösen jedoch nicht mein Problem. Was mache ich mit der nächsten Person, die mir Geld gibt? Ich kann mit verletztem Stolz und herausfordernder Arroganz zu ihr sagen: „Mir geht es wahrscheinlich besser als Ihnen. Behalten Sie Ihr Geld lieber selber.“ Oder ich kann mit beißendem Sarkasmus sagen: „Versuchen Sie nicht, sich Dankbarkeit und Befriedigung für Ihr eigenes Ego zu verschaffen. Sich herablassen zu müssen ist schlimm.“

Aber ich hasse solche Worte. Ich respektiere Freundlichkeit und Mitleid und möchte nicht, daß es mit Zynismus vermischt wird. Und doch fühle ich mich sehr unwohl. Gehen nicht die Tatsache, daß man mir Geld gibt, und der Zweifel und Spott, den man mir entgegenbringt, wenn ich meinen Beruf nenne, Hand in Hand? Wenn ich als Objekt der Nächstenliebe betrachtet werde, nimmt man mir natürlich nicht ab, daß ich Schriftstellerin, Journalistin und Professorin bin. Wenn ich weiterhin die Almosen annehme, verstärke ich dann nicht das Vorurteil der Europäer gegenüber Asiatinnen, sie seien entweder minderwertig oder bedürftig? Wie soll ich jemals die gedankenlosen Europäer - das ist natürlich nur die Minderheit - davon überzeugen, daß nicht alle Asiatinnen Prostituierte, Flüchtlinge oder verzweifelte Ausweisjägerinnen sind, daß einige von ihnen (auch von den Flüchtlingen) selbständig, intelligent und auch gebildet sind?

Im Mai ziehe ich nach Frankfurt. Ich werde an der Neonreklame vorbeigehen und jemanden fragen hören: „Kommen Sie aus Thailand?“ Ich werde einen Nachmittag mit An-An im Park verbringen und eine Frau mit der Hand in ihrem Portemonnaie auf uns zukommen sehen. Was soll ich machen?

Übersetzung aus dem Amerikanischen: Cornelia Jörgens