Tour '88: Jubiläum ohne Favoriten

■ Zum 75. Mal wird seit Sonntag durch Frankreich geradelt / Franzosen hoffen auf einen Erfolg durch Fignon oder Bernard / Vier Deutsche sind dabei: Kappes, Gölz, Dietzen, Bölts / Kurz-Tour mit 3.231 km

Berlin (taz) - Es liegt wieder reichlich Geld auf der Straße, doch wer sich davon den größten Batzen in die Tasche stopfen wird, ist offen wie selten in den vergangenen Jahren. Es fehlt der große Favorit bei der Tour de France, die in diesem Jahr ein Jubliläum feiert: Zum 75. Mal begeben sich Radfahrer auf die große Schleife durch Frankreich, und am 24.Juli wird auf den Pariser Champs Elysees der Sieger gekürt.

Der erste Träger des gelben Trikots, in dem der Führende in der Gesamtwertung fährt, kommt aus Italien: Guido Bontempi gewann am Sonntag eine Mischung aus Mannschafts- und Einzelzeitfahren, mit dem jedoch lediglich die Startreihenfolge für das Mannschaftszeitfahren am Montag nachmittag festgelegt wurde. Erst gestern ging es ernsthaft auf die diesmal 3.231 Kilometer lange Strecke, die, auch das eine kleine Besonderheit, 1988 im Uhrzeigersinn gefahren wird.

Premiere hatte die Tour bereits 1903 (von 1939 bis '47 war kriegsbedingt Pause). 60 Fahrer wurden auf holprige 2.428 Kilometer geschickt, die Gangschaltung war unbekannt, und Erleichterung schafften sich einige Fahrer dadurch, daß sie streckenweise den Zug benutzten. Es dauerte einige Jahre, bis sich die spleenige Idee von Henri Desgrange, dem Herausgeber der Sportzeitung 'L'Auto‘, durchsetzte, und trotz der schwierigen Bedingungen für die Fahrer steigerte Desgrange die Anforderungen beständig: je größer die Strapaze und das Spektakel, desto größer das öffentliche Aufsehen und die Werbung für sein Blatt. So fuhren die Pedaleure 1926 eine Distanz von 5.795 Kilometern, Etappen über 400 Kilometer und mehr waren keine Seltenheit. Daß sich die Tour im Jubliläumsjahr mit der bisher viertkürzesten Strecke dagegen eher bescheiden ausnimmt, liegt nicht an einer geänderten Einstellung der Organisatoren zur „Tour der Leiden“. Vielmehr möchte der Internationale Profi -Radsportverband (FICP) alle klassischen Etappenrennen kürzen - auch beim Giro d'Italia war dies der Fall -, um Platz zu haben für andere lukrative Veranstaltungen, vor allem in Übersee. Trotzdem, an Attraktion wird die Tour dadurch kaum verlieren. In diesem Jahr streiten 198 Fahrer aus 22 Teams um Etappensiege und verschiedenfarbige Trikots für die Gesamt-, Punkte- und Bergbesten, und die Franzosen hegen nicht ganz unberechtigte Hoffnungen, daß wieder einmal ein einheimischer erfolgreich ist.

Im Blick stehen dabei Laurent Fignon (27) und Jean-Francois Bernard (26), aber beide haben gesundheitliche Probleme. Fignon, Tour-Sieger schon 1983 und '84, plagen Schmerzen am Knie, und Bernard, Nachfolger als Kapitän in Hinaults alten Rennstall von Bernard Tapie (dem auch Olympique Marseille gehört), laboriert noch an den Folgen eines Sturzes beim Giro.

Auch wenn die Vorjahressieger Greg Lemond ('86/USA) und Stephen Roche ('87/Irland) verletzungsbedingt nicht dabei sind, Chancen auf einen englischsprachigen Toursieger gibt es durchaus. Für den 32jährigen Iren Sean Kelly ist es die vermutlich letzte Fahrt, für die er sich durch einen Sieg bei der Spanienrundfahrt empfielt, Andrew Hampsten (USA) dominierte in diesem Jahr klar den Giro d'Italia. Und den alten Vorbehalt, kein Fahrer könne in einem Jahr zwei große Rundfahrten gewinnen, widerlegte im Vorjahr bereits Roche durch seine Erfolge bei Giro und Tour.

Auch vier deutsche Fahrer radeln mit, in vier verschiedenen Mannschaften: Rolf Gölz, Andreas Kappes, Raimund Dietzen und der neue Profimeister Hartmut Bölts. Chancen hat keiner von ihnen, aber Gölz und Kappes werden immerhin Etappensiege zugetraut. An der Gesamtprämie von 2,4 Millionen Mark werden sie trotzdem teilhaben, und Kappes als Mitglied von Bernards Team partizipiert möglicherweise am Siegerpreis von 400.000 Mark: Was bei der Tour eingefahren wird, kommt in die Mannschaftskasse und wird geteilt. Die reiche Ernte wird von den großen Namen erst später eingefahren, bei den Kirmes und Sechstagerennen.

Thömmes