Auf der Suche nach dem Boom

 ■  Aus London Rolf Paasch

„Westminster Reference Library“ war immer meine letzte Zufluchtstätte. Wenn mir alle anderen Londoner Bibliotheken den Zugang zu einer dringenden Recherche verweigerten - sei es, weil das Personal streikte oder das Mikrofilm-Gerät -: in der versteckten kleinen Bücherei des Stadtbezirks von Westminster, schräg gegenüber der britischen „National Gallery“, fand ich am Ende immer, was ich benötigte: Ausgaben der 'Times‘ aus dem letzten Jahrhundert, die Prognosen bekannter Wirtschaftsforschungsinstitute oder ganz einfach nur die buntblättrigen Beilagen der britischen Sonntagszeitungen. So war das jedenfalls bis zum vergangenen Mittwoch.

Da nämlich erklärte mir der enttäuschte Bibliothekar, das Fotokopieren meiner Zeitungsausschnitte sei unmöglich. Er warte bereits seit zehn Tagen auf die Reparatur der defekten Kopiermaschine. „Die haben hier in Westminster bei den technischen Diensten wieder Stellen gekürzt“, sagt er entschuldigend. Auch sein rühriger Versuch, die Bücherei im benachbarten Camden anzurufen, schlägt fehl. Die Haustelefonanlage ist gerade zusammengebrochen. „British Telecom“, sagt er achselzuckend, „bei denen hat auch die Privatisierung nichts genützt.“ Und dann erinnert er sich. Heute sei ja Mittwoch, da hätten in Camden sowieso alle Stadbüchereien geschlossen. „Personalengpässe, sie wissen schon“, bedauert er kopfschüttelnd. Am Ende rät er mir, mit der U-Bahn zur Zeitungsabteilung des „Britischen Museums“ im hohen Norden Londons, nach Colindale zu fahren.

Auf seinen Rat hin begebe ich mich in den Londoner „Underground“, wo mich auf dem Bahnsteig der „Northern Line“ bereits die bekannt-blecherne und wie immer unverständliche Stimme des Stationsansagers empfängt. Was das antiquierte Lautsprechersystem nicht mehr zu übermitteln vermag, steht bereits auf den Gesichtern der wartenden Möchtegern -Passagiere geschrieben: „Signal failure“. Dieser Begriff ist in London längst von der Beschreibung eines technischen Defektes zur folklorehaften Metapher des unterirdischen Reisens geworden; steht er doch weniger für das Versagen bestimmter Zugampeln als für das Scheitern von Regierung und Verkehrsbehörde, die Signale für eine vernünftige Verkehrspolitik in London rechtzeitig auf Grün zu stellen. Mittelkürzungen bei einem um 60 Prozent gesteigerten Passagieraufkommen haben den Zugverkehr so unzuverlässig werden lassen, daß Fahrgastmeutereien auf der „Northern Line“ mittlerweile alltäglich sind. Heute fährt jedoch nicht einmal ein Kurzzug in den Bahnhof ein, den wir dann durch einen kollektiven Sitzstreik zur Weiterfahrt bis Colindale zwingen könnten. So kehre ich unverrichteter Dinge wieder an die Erdoberfläche zurück. Zu Fuß strebe ich nun der nähergelegenen Universitätsbibliothek entgegen, der letztmöglichen Station auf meiner Suche nach Zeitschriftenmaterial über den angeblichen Boom in der britischen Volkswirtschaft. Doch nein, die Dame an der Eingangspforte erweist sich dem Nicht-Studenten als unüberwindlich. Erst sei eine schriftliche Bewerbung einzureichen, woraufhin die Universitätsverwaltung die Dringlichkeit meines Antrages einschätzen werde. Meine Chancen, einen Benutzerausweis ausgestellt zu bekommen, seien allerdings gering. „Sie müssen das verstehen! Bei all den Personal- und Mittelkürzungen können wir im Leseraum ja kaum noch unsere eigenen Studenten akkomodieren.“

Beim Hinausgehen drückt mir eine freundliche Studentin noch ein Flugblatt in die Hand: „Verteidigt unsere Bibliothek gegen die KÜrzungspläne! Kommt zur Demonstration am Mittwoch um 16.30 Uhr vor dem Universitätsgebäude“, steht darauf mit dicken schwarzen Lettern geschrieben. Und ehe ich mich versehe, bin ich von einer stumm protestierenden Menge umgeben und demonstriere zusammen mit traurigen Bibliothekaren und lernwilligen Studenten gegen defekte Fotokopierer, überlastete Telefonnetze überholungsbedürftige Signalanlagen und die Verunmöglichung des Lesens.

Über den Boom, in dem sich die britische Volkswirtschaft nach der Radikalkur Margaret Thatchers befinden soll, habe ich bei meiner verhinderten Recherche bisher nur eines herausgefunden. Sollte es ihn wirklich geben, dann ist er mit Sicherheit auf den Ruinen einer völlig zerstörten sozialen Infrastruktur gebaut.