Barbaren im Garten Eden

■ Die Zerstörung Tahitis

Hans-Christof Wächter

Straßenschlachten, Tränengas, Barrikaden, brennende Warenhäuser und umgestürzte Autos, vermummte Polizisten und steinewerfende Zivilisten - vertraute Bilder und Berichte, die da Anfang November durch die Medien gingen. Diesmal jedoch hatten nicht Wackersdorf, Kreuzberg oder Startbahn West für griffige Schlagzeilen gesorgt - das aktuelle Material kam von der anderen Seite der Welt, aus einer Region, die als irdische Variante des Garten Edens seit 200 Jahren europäische Sehnsüchte beflügelt: von der Südseeinsel Tahiti.

Eine seit langem glimmende Lunte hatte ihr Pulverfaß erreicht: Ein Streik der Hafenarbeiter in Tahitis Hauptstadt Papeete war eskaliert zu den schwersten Auseinandersetzungen zwischen polynesischer Bevölkerung und weißer französischer Staatsgewalt. Die Ursachen sind vielfältig und reichen weit zurück; genau betrachtet bis zum 26.6.1767, als zum ersten Mal ein Segelschiff europäischer Entdecker an Tahitis Küste vor Anker ging. * * *

„Von See aus ist der Anblick großartig. Es ist eine Masse von Grün in allen Tönungen, vom Strand bis zu den Bergspitzen; immer wieder unterbrochen von Tälern, Hügelketten und Schluchten. Wasserfälle glitzern im Sonnenlicht, als stürzten sie durch hohe Laubbögen herab. Eine solche Verzauberung liegt über dem ganzen, daß es eine Feenwelt zu sein scheint, frisch und blühend aus des Schöpfers Hand.“ Das ist das Bild, das sich mir bietet, wenn ich mich umdrehe und zur Küste Tahitis zurückschaue. Herman Melville hat es so beschrieben. Vor 140 Jahren. Nichts hat sich geändert seitdem. Auch das Gefühl von Traum und Wirklichkeit ist dasselbe.

Moeterauri hat mich eingeladen, mit ihm zum Fischen hinauszufahren. Die Sonne senkt sich hinter die bizarren Vulkanzacken, als wir von Hitiaa im schmalen Auslegercanoe zum Riff paddeln - über die Mouillage de Bougainville hinein in die Passe de la Boudeuse - wo der silberne Spiegel des Lagunensees in die dunkle, gleichmäßig rollende Dünung des Pazifik übergeht. Wir haben historisches Gewässer durchquert: Hier ist, vor mehr als 200 Jahren, exakt: am 6.April 1768, der französische Weltumsegler und Entdecker Louis-Antoine de Bougainville mit seinen beiden Schiffen „La Boudeuse“ und „L'Etoile“ erstmals in Tahiti vor Anker gegangen.

Unser Einbaum ist an einem Korallenfelsen festgemacht, die Fischschnur in schwarze Tiefe gesunken. Wir warten auf den Biß, wir haben unter dem hohen Sternenhimmel viel Zeit für ruhige Gespräche. Ich frage Moeterauri nach sich und seiner Familie.

„Ich?! Ich bin ein ganz normaler Tahiter; von meiner Familie gibt es nichts besonderes zu berichten. Typische Polynesier. Höchstens mein Großvater. Der war ein Fall für sich: meines Vaters Vater war ein spanischer Matrose. 1905 kam das Kriegsschiff, auf dem er diente, nach Tahiti. Das Schiff war eng und schmutzig. Manuel, so hieß mein Großvater, sah unser schönes Land. Die Offiziere auf dem Schiff behandelten die Matrosen wie Tiere. Die Menschen von Tahiti waren freundlich zu den Matrosen. Manuel sah die tahitischen Männer in der Lagune fischen. Er war der Sohn eines Fischers und selbst Fischer, bevor die Marine kam und ihn holte. Die Fischerei im Atlantik war schwer, die Menschen litten oft Not. Manuel sah, daß in Tahiti das Fischen leicht war, die Menschen kannten keine Not. Dann traf er Tehura. Tehura war sechzehn Jahre alt und schön. Sie stammte von Moorea. Ihr Vater war ein chinesischer epicier, ein Händler. Ihre Mutter war Polynesierin und stammte aus einem alten Adelsgeschlecht. Ihr Vater, Tehuras Großvater also, war der letzte König von Tubuai gewesen, einer Insel im Austral-Archipel, weit unten im Süden. Eines Nachts stieg Manuel leise über Bord seines spanischen Kriegsschiffes, ließ sich vorsichtig ins Wasser gleiten, schwamm an Land und lief in den Busch. Tehura wartete auf ihn.

Viele Tage hielten sie sich im Busch versteckt. Von den Bergen sahen Manuel und Tehura schließlich das Kriegsschiff aus der Lagune fahren. Da erst kamen sie aus dem Wald. Mit einem Canoe fuhren sie nach Moorea. Manuel heiratete Tehura. Sie waren sehr glücklich miteinander, erzählen die alten Leute. Obwohl sie niemals viel miteinander sprechen konnten. Mein Großvater hat sein Leben lang nie richtig tahitisch oder französisch gelernt und meine Großmutter verstand nur wenig von seiner spanischen Sprache. Sie haben sieben Kinder gehabt und lange gelebt.“ Und mit einem kleinen selbstironischen Lachen resümiert Moeterauri: „Du siehst, ich stamme aus einer ganz normalen und typischen tahitischen Familie.“

„Laß‘ mich mal nachrechnen. Zu einem Viertel bist du Spanier, zu einem Achtel Chinese und zu - wieviel Prozent fehlen noch - ja, zu fünf Achteln Polynesier...“

„Na immerhin! Das ist ganz normal bei uns. Seit Captain Wallis, Bougainville und James Cook mit ihren Leuten unsere Inseln besucht haben, seitdem und bis heute hat es auf Tahiti eine unaufhörliche Vermischung von Nationalitäten, Hautfarben und Rassen gegeben. - Aber bin ich darum kein Tahiter?!“ * * *

Über zwei Jahrhunderte lang waren europäische Schiffe nur sporadisch in die Weiten des Pazifiks vorgedrungen. Mit der beginnenden Aufklärung jedoch, ab Mitte des 18. Jahrhunderts, setzte eine systematische Erforschung dieses noch immer unbekannten Erddrittels ein. Wissenschaftliche Neugier und wirtschaftliche Interessen gingen einen handfesten Bund ein.

Die Expeditionen zogen aus, den sagenhaften Südkontinent, das Goldland Eldorado zu suchen. Was sie fanden, waren immer neue Archipele aus zahllosen Inseln. - Das Beispiel Tahiti macht auf besonders groteske Weise deutlich, wie leicht es dazumal war, eine lukrative kleine Kolonie zu kommen; zeigt aber auch, wie hart der Konkurrenzkampf in der Branche war: Am 26. Juni 1767 sehen die Insulaner zum erstenmal die weißen Segel eines europäischen Schiffes vor ihrer Küste auftauchen. Der Engländer Samuel Wallis nimmt Tahiti für die Krone in Besitz und gibt der Insel den Namen „King George's Land“.

Knapp zehn Monate später landet Bougainville auf Tahiti. Obwohl er vom Besuch der englischen Expedition erfährt, nimmt er die Insel für die französische Krone in Besitz und gibt ihr den sinnigen Namen „La Nouvelle Cythere“, die neue Insel der Aphrodite, die Insel der Liebe.

Ein Jahr darauf, am 13. April 1769, macht Captain James Cook bei seiner ersten Weltumseglung auf Tahiti Station und nimmt - wer hätte daran gezweifelt - die Insel wiederum feierlich für die englische Krone in Besitz.

1772 und 1774 kommen Spanier von Peru aus auf die Insel, nehmen sie - sicher doch - in Besitz, taufen sie um in „Isla de Amat“ und errichten eine Missionsstation. Die floriert allerdings nicht sonderlich und muß schon bald wieder aufgegeben werden.

Um das Spiel ein für allemal zu beenden, läßt Captain Cook bei seinem dritten Tahiti-Stopover ein von den Spaniern errichtetes und mit der Inschrift „Christus vincit, Carolus tertius imperat 1774“ versehenes Kreuz mit dem Zusatz beschriften „Georgius tertius rex, annis 1767, 1769, 1774 et 1777“. Mit anderen Worten, Cook meldet an: Wir waren vor euch da, die Beute gehört uns! * * *

Moeterauris Großvater, der dem Zauber Polynesiens und seiner Frauen verfiel - er ist einer von Zahllosen, die alles daransetzten, hier bleiben, hierher zurückkommen zu können. Die Deserteure von der „Bounty“ sind die bekanntesten: Im Oktober 1788 hatte His Majesty's Ship unter Captain William Bligh in der Lagune der Matavai-Bay Anker geworfen. Bligh war mit dem Auftrag gekommen, so viele Schößlinge des Brotfruchtbaums zu sammeln, als er finden und transportieren könne. Die sollte er nach Westindien bringen, wo man hoffte, mit der Einfuhr der Brotfrucht eine billige und nahrhafte Speise für die Plantagenarbeiter zu erhalten. Fünfeinhalb Monate blieb die „Bounty“ auf Tahiti. Was niemand gedacht hatte: Fünfeinhalb Monate waren zu lang. Zu lang für die Mannschaft, um nicht Vergleiche anzustellen.

Da war einerseits das leichte Leben auf Tahiti, inmitten einer üppigen Vegetation, im angenehmsten Klima der Welt, umgeben von gastfreundlichen Menschen. - Und da war andererseits die endlose Schinderei auf dem Schiff, ein für uns unvorstellbar hartes Leben in Kälte, Hitze und Nässe, in trostlosen Quartieren, mit unzureichender Verpflegung, unmenschlichen Strafen und der Ungewißheit, ob man die Heimat je wieder erreichen würde. Ein Abenteuer auf Leben und Tod waren solche Expeditionsreisen zu jener Zeit allemal. Die Entdecker und Weltumsegler fuhren ins Unbekannte, oft monatelang ohne Land in Sicht. Dann gingen die Vorräte zur Neige, dann wurde das Trinkwasser faulig, dann legten sich täglich mehr Männer von Skorbut und Ruhr gezeichnet nieder.

Was hätte die rückkehrende Mannschaft der „Bounty“ in England erwartet, das ihnen das Heimkommen erstrebenswert machen sollte?! - Ein kurzer trister Landurlaub, dann wieder angeheuert auf einem anderen Schiff, bei minimaler Heuer, wenn nicht gar auf ein Kriegsschiff gepreßt, mit noch schlechteren Lebensbedingungen...

Auf Tahiti dagegen lebten sie gut und gesund, sie fühlten sich wohl und geliebt, vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben. Der Gedanke, all das zu verlieren, „ihre“ Insel wieder verlassen zu sollen, konnte ihnen nicht gefallen. Der einzige Ausweg aus dem Zwiespalt war Meuterei. 28 Mann von den 42 der Besatzung entschieden sich dafür. Kurz nach der Abreise zwangen sie Bligh und diejenigen, die ihm die Treue hielten, ins Beiboot, gaben ihnen etwas Proviant, stießen das Boot vom Schiff ab, und segelten mit dem Ruf „Auf nach Tahiti!“ zurück zu ihrer Trauminsel.

Fast alle frühen Tahiti-Fahrer erwähnten Fälle von versuchter Desertation. Die Insel zog unwiderstehlich in ihren Bann. Berühmtester Deserteur sollte der Amerikaner Herman Melville werden, der 1842 als einfacher Matrose an Bord des Walfängers „Acushnet“, 23jährig nach Tahiti und den nördlich gelegenen Marquesas kam. Das Erlebnis Polynesien überwältigte auch ihn. Auf Nuku Hiva sprang er vom Schiff, schwamm an Land und verschwand im Urwald. Bei den Bewohnern des Taipi-Tals erlebte er glückliche Wochen. Ausgelesen von einem anderen Walfänger, desertierte Melville wenig später in Tahiti zum zweitenmal. Wieder wurde er aufgegriffen. Unverdrossen saß er in Papeete seine Gefängnisstrafe ab und verdrückte sich nach seiner Entlassung auf die Nachbarinsel Moorea. Dort arbeitete er einige Zeit bei einem Pflanzer, fand jedoch bald, daß Müßiggang die in dieser Umgebung angemessenere Beschäftigung sei und widmete sich ihr voll.

Der junge Ex-Matrose und Beachcomber schaffte es schließlich, sich loszureißen. Im Blut aber trug er den unausrottbaren Bazillus lebenslanger Sehnsucht nach den pazifischen Inseln. Seine Sehnsucht wurde Dichtung. In einem unglaublichen Ausbruch literarischer Energie schrieb Melville nach seiner Rückkehr in die USA in der kurzen Zeit von nur fünf Jahren, von 1846 bis 1851, seine großen Erzählungen und Romane. „Typee“ gehört dazu, Melvilles arkadische Erlebnisse unter den Kannibalen der Marquesas, „Omoo“, seine abenteuerliche Zeit auf Tahiti und Moorea beschreibend, voller polemisch-scharfer Angriffe gegen das zerstörungswerk der weißen Eindringlinge, und schließlich „Moby Dick“, homerisches Epos vom Kampf des Menschen mit dem Meer, dem Wal, den Urgewalten, mit sich selbst.

Das Tahiti, das die Weltumsegler des 18. Jahrhunderts entdeckten, erschien ihnen als ein paradiesischer Garten, von Klima und Natur begünstigt, sorgenfrei und unschuldig.

Die Ankömmlinge sahen, von Rousseau beeinflußt, was sie sehen wollten, und übersahen, was nicht in ihr pastorales Bild paßte. So arkadisch und malerisch die Wegbereiter des wissenschaftlichen Zeitalters die Lebenswelt Tahitis im vergleich zu ihrem problemüberhäuften europäischen Heimatländern am Vorabend der Revolution auch immer empfinden mußten, ein irdisches Paradies war Tahiti nicht.

Die Polynesier lebten eingebunden in ein gesellschaftliches System von strengem und kompliziertem Aufbau, das jedem seinen Platz zuwies und Schranken setzte. Es gab eine starre Klassenpyramide von Fürsten, Priestern, Freien und Hörigen, es gab eine Religion, die ihre Rechte unnachgiebig einforderte, es gab Menschenopfer und Kindesmord, es gab immer wieder Kriege.

„Das Menschengeschlecht von dem größtmöglichen Teil des Elends, welches dasselbe bedrückt, zu befreien und demselben das reichlichste Maß von Glückseligkeit zu verschaffen, dessen die menschliche Natur fähig ist“, war das selbstgesteckte hohe Ziel, mit dem 1797 die ersten Missionare der „London Mission Society“ auf Tahiti anlangten. Wie die zwangimportierte „Glückseligkeit“ der Insulaner in Wirklichkeit aussah, beschreibt einer der ersten Missionare nur vier Jahre nach seiner Ankunft mit für seinen Berufsstand erstaunlicher Einsicht: „Man muß sich immer wieder wundern, welchen unermeßlichen Schaden die Krankheiten angerichtet haben, seit wir auf der Insel weilen. Der Bezirk Matavi ist im Vergleich zu dem, was er einst war, fast entvölkert. (...) Dies gilt von der ganzen Insel.“

Man mag das noch für eine unbeabsichtigte „Nebenwirkung“ des Kontaktes der Insulaner mit der weißen Zivilisation halten, die völlige Eliminierung der, wie die puritanischen Missionare es sahen, götzendienerischen, sündig wollüstigen und unappetitlich unzivilisierten Lebensform der Polynesier war erklärtes Programm. Dabei schreckten die geistlichen Herren auch nicht davor zurück, mit Waffenlieferungen, Bestechung und Parteinahme in die Kriegshändel der tahitischen Gaufürsten einzugreifen.

Schon vor den Missionen waren die Walfänger gekommen. Seit um 1790 die Amerikaner den südlichen Pazifik als scheinbar unerschöpflichen Fanggrund entdeckt hatten, strömten von Jahr zu Jahr mehr und größere Fangflotten in dieses Gebiet. Dabei waren die von der Natur so reich gesegneten Archipele, allen voran Tahiti, willkommene Basen zur Erholung und Ergänzung der Nahrungsvorräte. - Wo immer sie nach Monaten harter, gefährlicher, oft genug aber auch unsäglich eintöniger Arbeit an Land gingen, schufen die Walfänger Probleme. Betrunken, unzähmbar, Krankheiten mit sich schleppend, waren sie die Verzweiflung der Missionare, eine Plage für die Verwaltungen und das Verderben der eingeborenen Bevölkerung.

Polynesien, Tahiti - heute ist das nicht mehr Inbegriff für weltabgeschiedene Eilande in der unerreichbaren Weite eines unbekannten Ozeans. Polynesien, Tahiti - heute bedeutet das: France d'Outre-Mer oder Polynesie Fran?aise. Im Reiseführer steht es klipp und klar, scheinbar unverrückbar wie ein mosaisches Gesetz: „Tahiti est partie integrante de la Republique Fran?aise, elle a le statut de „Territoire d'Outre Mer“. Les Tahitiennes sont citoyennes fran?aise. La fran?ais est la langue officielle.“

Französisch Polynesien umfaßt fünf Archipele oder Inselgruppen: die Gesellschaftsinseln, zu denen Tahiti gehört, die Marquesas, die Tuamotus, die Gambier- und die Austral-Inseln. Sie liegen auf einer Meereshöhe von über 3000 Kilometern Länge und 2300 Kilometern Breite, fast genau in der Mitte des südlichen Pazifik, 6000 Kilometer von Australien und 7000 Kilometer von Südamerika entfernt.

Man muß sich derartige Dimensionen im Vergleich anschaulich machen: Die nördlichen Marquesas-Inseln, schon nahe dem Äquator, und die Austral-Inseln am südlichen Wendekreis trennt eine Entfernung, die der zwischen Stockholm und Sizilien entspricht; nimmt man andererseits die Landmasse aller Inseln der fünf Gruppen zusammen, so sind es gerade 4000 Quadratkilometer, die Hälfte von Korsika.

Seit de Gaulle das französische Atombombenzentrum in der Sahara aufgeben mußte und 1963 die zu den Tuamotus gehörenden Atolle Moruroa und Fangataufa als neuen Standort „erwählte“, seit jener Zeit hat sich die Zahl der in Tahiti ansäßigen oder beschäftigten Franzosen mehr als verzehnfacht. - Es ist darum nicht verwunderlich, daß man inzwischen auf Tahiti, dessen Bewohner seit den Tagen der Entdecker als die gastfreundlichsten Menschen der Erde gepriesen wurden, immer stärker auf Ablehnung von Ausländern, ja auf Fremdenhaß stößt. Doch der Zwiespalt ist

-zumindest vorderhand - nicht lösbar: Niemand im polynesischen Lebensraum will die französischen Atomtests mit ihren nicht absehbaren Spätfolgen für das gesamte Ökosystem - andererseits bringt das „Centre des experimentations du Pacifique“, von dem die Tests durchgeführt werden, über 40 % des Bruttosozialprodukts auf, doppelt soviel wie die Tourismusindustrie.

Auch die gewachsenen Strukturen der polynesischen Bevölkerung hat das Testzentrum mit seinem immensen Bedarf an Zuarbeitern gravierend eingriffen. Schon 1963 warnte ein polynesischer Volksvertreter: „Die Armee wird Leute von den äußeren Inseln nach Papeete holen, und diese Leute werden Proletarier werden. In der Zwischenzeit verlieren die ländlichen Gebiete Bauern und Pflanzer, und die Produktion von Kopra, Perlmuscheln, Kaffee und Vanille geht zurück.“ Genau das ist eingetreten. Unaufhaltsam kriechen die Slum -Siedlungen Pappeetes immer höher in die Täler am Rande der Stadt. Seit die französischen Militärs mit einer drastischen Reduzierung des zivilen Personals begonnen haben, wächst die Verelendung, die Jugendarbeitslosigkeit und -kriminalität. Immer noch hält der Zustrom von den kleinen abgelegenen Inseln an. Mehr als die Hälfte der schätzungsweise 160.000 Bewohner Französisch Polynesiens lebt inzwischen in und um Papeete konzentriert.

Papeete ist eine anheimelig schlampige und zugleich mondäne Stadt, so hektisch wie verschlafen, so europäisch wie tropisch, einnehmend schön und nachlässig häßlich zugleich.

-Eine Stadt, deren Atmosphäre sich aus ihren Gegensätzen erklärt. Nur zweierlei will so gar nicht ins friedliche Bild passen: Eben jene trostlosen Hüttendörfer vor der Stadt und der riesige Marinehafen, logistische Basis für das Atomtestzentrum 1000 Kilometer südöstlich. Hier liegt einer Gründe dafür, daß - statistisch gesehen - Französisch Polynesien zu den wohlhabendsten Ländern der Welt gehört. Die Polynesier profitieren davon, bis hin zum Privileg der Steuerfreiheit, daß Frankreich seine militärpolitische Einflußsphäre im Pazifik aufrecht erhalten und Moruroa als nukleares Testzentrum auch weiterhin nutzen will.

Es klingt süffisant-weltmännisch, wenn ein früherer französischer Gouverneur von Tahiti den Tatbestand auf das Bonmot bringen zu können meinte: „Früher hatten wir die Pompadour. Jetzt ist Tahiti die Mätresse Frankreichs, und bei einer Geliebten sieht man nicht aufs Geld.“ Sieht man dennoch genauer hin, enthüllt sich der ganze Zynismus der Metapher. Man muß sie wenden: Brachten die ersten Liebhaber Tahitis, die englichen, französischen, spanischen Entdecker des 18. Jahrhundets der Geliebten die Syphilis und zahllose andere Seuchen, so ist es heute die radioaktive Verseuchung von Luft, Wasser und Nahrung, mit der Frankreich seine Mätresse beglückt.