Der unaufhaltsame Aufstieg des Bettino Craxi

Mit Vetternwirtschaft und Destabilisierungs-Strategien hangeln sich Italiens Sozialisten unter ihrem Chef an die Macht / Der PSI profitierte von der Annäherung der beiden „Großen“, Christdemokraten und Kommunisten / Ein Parteiprogramm würde beim Taktieren nur stören / Unterstützung durch Fiat-Chef Agnelli  ■  Aus Rom Werner Raith

„Hier sollen“, sagt Sozialisten-Vize Claudio Martelli zu seinem Chef Bettino Craxi beim Besuch in China, „eine Milliarde Menschen leben.“ - „Stimmt.“ - „Und alles Sozialisten?“ - „Stimmt auch.“ - „Und von wem klauen die dann?“ Beppe Grillo, Italiens Starkomiker, bezahlte seine Fernseh-Frotzelei über die „Aneignungsmentalität“ italienischer Sozialisten mit mehrjährigem Ausschluß von allen großen Shows - „Doch wegen übler Nachrede haben sie mich nicht angezeigt“, setzt er heute drauf, „sonst hätte ich den Wahrheitsbeweis angetreten.“

Da liegt er nicht weit ab von der Volksmeinung über die Partei, die mit knappen 14 Prozent Wählerstimmen von 1983 -1987 die Regierung geführt, den absoluten Langzeitrekord aller bisherigen 48 Nachkriegsregierungen aufgestellt hat und die scheinbar unaufhaltsam von Erfolg zu Erfolg eilt: Nach Ansicht einer satten Dreiviertelmehrheit aller Italiener kennzeichnen den PSI neben „Modernität“, „Industriefreundlichkeit“ und „Unabhängigkeit“ vor allem Merkmale wie „Schlitzohrigkeit“ und „Skrupellosigkeit“.

Zwei historische „Glücksfälle“ haben die einst zahme, ganz im Schatten des mächtigen 30-Prozent-Blocks der Kommunisten zuckelnde, immer von Spaltung bedrohte 10-15-Prozent-Partei in den Machtfaktor der italienischen Politik schlechthin verwandelt: die Annäherung der beiden „Großen“ Christdemokraten und Kommunisten - und das Auftreten des seit zwölf Jahren der Partei vorsitzenden Bettino Craxi.

Als sich in den 70er Jahren aufgrund der wachsenden Wirtschaftskrise PCI und DC miteinander verbündeten, um die unruhigen Gewerkschaften zu bändigen und die aggressiven Arbeitgeber zu beruhigen, bewegte die damals schon seit einem Jahrzehnt mit der DC regierenden Sozialisten vor allem die Angst, sie könnten durch die Kungelei der Großparteien aus dem Machtkartell gedrängt werden. Bettino Craxi, damals ein scheinbar eher farbloser Newcomer aus der Finanzmetropole Mailand, sah seine Stunde gekommen: In einem Handstreich entwand er 1976 dem Altsozialisten Francesco De Martino aus Neapel die Parteiführung und begann alsbald eine emsige Arbeit gegen die Allianz DC-PCI. Grundmethode bis heute: Immer das Gegenteil der „Großen“ tun, es zahlt sich aus. Ob er während der Moro-Entführung 1978 für Verhandlungen mit den Roten Brigaden eintrat und so die Hardliner DC und PCI in Verlegenheit brachte, ob er reihenweise Regierungen platzen ließ - um dann fröhlich wieder mitzukoalieren -, ob er gegen die verdatterten Christdemokraten den Fünf-Prozent-Partei-Vertreter Giovanni Spadolini von der Republikanischen Partei als ersten Nicht -DC-Regierungschef durchsetzte: stets brachte er seinen PSI, vor allem aber sich selbst, in die Schlagzeilen, bewies, daß ohne ihn nichts ging. Ein Verfahren, das in Italien fast immer klappt - als machtvoll gilt, wer es schafft, den Mächtigen Schwierigkeiten zu bereiten: Unverzüglich wird er von da an vom Establishment ins Kalkül gezogen. Craxi perfektionierte dieses System, indem er systematisch jegliche Kontinuität der Politik beseitigte - selbst während seiner Zeit als Ministerpräsident, wo er sich mal als US -Freund gab und die Aufstellung der Marschflugkörper realisierte, sich dann wieder als Oberpriester des Antiamerikanismus aufführte. Was jedoch im Ausland als widersprüchlicher Zickzackkurs erschien, war in Wirklichkeit vorwiegend die unentwegte innenpolitische Zerhackstückelung der Manöver seiner tatsächlichen und potentiellen Widersacher - speziell seines christdemokratischen Außenministers Giulio Andreotti, der eine einigermaßen berechenbare auswärtige Politik verfolgt, bei Craxi aber (nicht zu Unrecht) im Geruch steht, sein einziger ernsthafter politischer Konkurrent zu sein. Craxis Trick war dabei genial einfach. Da Italiens Politiker gewohnheitsgemäß alle Entscheidung in langwieriger Kungelei und ewigem Schacher aushandeln, brachte jeder unvorhergesehene Regierungssturz, jedes durchgefallene Gesetz alle Machenschaften durcheinander - Craxi konnte seine Macht dokumentieren, ohne auch nur im geringsten ein Alternativprogramm vorlegen zu müssen. Eine bis heute aufrechterhaltene Unberechenbarkeit, die die anderen Politiker schon seit Jahren nicht mehr zur Ruhe kommen läßt. Und seither redet Craxi überall mit, wo Entscheidungen getroffen werden, und er läßt sich teuer bezahlen, wenn er „andere“ Lösungen als die von ihm - oft nur taktisch vorgeschlagenen akzeptiert. Reihenweise fielen so hochdotierte, einflußreiche Posten an seine Gefolgsleute mehr als die Hälfte der Direktoren großer Banken hat heute das PSI-Parteibuch, in über tausend Städten setzte er den Eintritt seiner Leute in die Stadtkoalition durch.

Innerhalb der Regierungsallianz herrscht seit Jahren das System der „Opposition aus der Koalition heraus“: Obwohl ununterbrochen im Bündnis, polemisiert der PSI unentwegt offen gegen die anderen Bündnispartner. Mit doppeltem Erfolg: Craxi nimmt der „eigentlichen“ Opposition, den Kommunisten, Grünen, Radikalen, allen Wind aus den Segeln, baut seine Stellung von Wahl zu Wahl auf deren Kosten aus (mit oft kurzfristigen Manövern wie die Ankündigung eines Ausstiegs aus der Atomkraft - was er danach prompt widerruft); und er erschüttert das Vertrauen in alle anderen Politiker, indem er sie öffentlich als Hampelmänner vorführt. Seinen Vorgänger Spadolini führte Craxi öffentlich vor, als er, ohne ihn zu informieren, den Achille-Lauro -Piraten Abbul Abbas freiließ, den die Amerikaner in Zusammenarbeit mit Spadolini auf Sigonella zur Landung gezwungen hatten. Mit dem Christdemokratenchef Ciriaco De Mita handelte er 1983 eine Übergabe der Regierung in der Hälfte der Legislaturperiode aus - um die vereinbarte Machtübergabe dann als „dummes Geschwätz“ abzutun, woraufhin es zu Neuwahlen kam, bei denen die PSI Stimmen hinzugewann. Eine Strategie der Destabilisierung ohnegleichen - was die anderen auch tun, nichts bleibt ohne Konterkarikierung durch Craxi. Als der DC-Bildungsminister Giovanni Galloni 1987 den - illegitimen - direkten Eingriff des Papstes in die Schulpolitik verurteilte, erklärte Craxi, daß der Heilige Stuhl völlig recht habe; als umgekehrt Anfang Juni 1988 die Bischöfe ihre - legitime - Sorge wegen der Stationierung der F16-Bomber artikulierten, blaffte Craxi: „Das geht die überhaupt nichts an.“

Das Bild der PSI ist längst hinter der Gestalt des ständig hakenschlagenden Craxi verschwunden; ein Parteiprogramm ist trotz einiger allgemein gehaltener Erklärungen zur „notwendigen Modernisierung des Landes“ nirgends zu erkennen. Selbst die Identifizierung mit der „fortschrittlichen Kapitalfraktion“ (High-tech etc.) klappt nicht so recht: Olivetti-Chef Carlo De Benedetti beispielsweise zog sich nach einer Auseinandersetzung um die Privatisierung des Staatskonzerns IRI vom PSI zurück, dagegen findet neuerdings Fiat-Chef Giovanni Agnelli, eher konservativ, in Craxi einen „machtvollen Repräsentanten Italiens“.

Als mächtig, vielmehr: machtbesessen, sehen ihn auch viele Italiener. Der Karikaturist Forattini ('La Republica‘) zeichnet ihn denn auch in schwarzem Hemd und Stiefeln mit aufgerissenem Mund - das Ebenbild des „Duce“ Benito Mussolini. Und Ähnlichkeiten gibt es zweifellos - nicht nur äußerliche. Auch Mussolini kam aus der sozialistischen Partei, auch er gewann die große Industrie, auch er hielt wie Craxi erklärtermaßen - nicht viel vom Parlament, und auch er wurde immer mehr zum militanten Antikommunisten. Und wie Mussolini zweideutige Manöver von Anfang an deckte, liegt auch Craxi nicht viel an klaren Verhältnissen. Als der Untersuchungsrichter Carlo Palermo 1983 bei Mafia -Waffengeschäften auf den Oberfinanzier des PSI, Mach Di Palmstein, stieß, begann Craxi - damals Regierungschef eine wütende Kampagne gegen Palermo und gegen die „Anmaßung der Richter“ insgesamt. Erster „Erfolg“: die Demission des eifrigen Fahnders; vorläufig letzte Konsequenz: eine Gesetzesänderung zur „zivilrechtlichen Verantwortlichkeit des Richters“, die die Unabhängigkeit der Justiz von der Politik endgültig beseitigt.

Das hat Craxis Club auch nötig: Keine andere Partei hat, gemessen an der Zahl ihrer Mitglieder, so viele Korruptionsverfahren am Hals wie der PSI. Halbe Stadtratsfraktionen wie in Bari, Turin oder Catania müssen sich wegen Bestechlichkeit verantworten, den ehemaligen Transportminister Claudio Signorile hat soeben wieder mal ein Strafverfahren wegen Annahme von Schmiergeldern in umgerechnet Millionen-DM-Höhe erreicht. In Palermo nahmen die Sozialisten unverhüllt Wahlhilfe mafioser Zirkel entgegen: In den Bars des Zentrums der „Ehrenwerten“ am Corso dei Mille prangten Plakate mit den Konterfeis notorischer Killer mit Wahlempfehlungen für zwei Sozialisten und einen Republikaner, ohne daß die Partei dagegen protestierte.

Tatsächlich fechten solcherart Vorhalte im PSI kaum mehr jemanden an - die Wahlerfolge (eine Zunahme um fast drei Prozent bei den Parlamentswahlen 1987, Sprünge bis zu fünf Prozent bei den Kommunalwahlen im Mai 1988) belegen, daß das Volk unsaubere Manöver, Ämterschacher, Programmlosigkeit nicht bestraft: Die Sogwirkung der vom PSI dokumentierten Macht hat begonnen. Craxi peilt für die nächsten Wahlen (1989 Europa, 1990 Regionalwahlen, Parlament 1992 oder früher) bereits sein Traumziel an - den PCI zu überholen und zum Chef einer neu ausgehandelten Linksallianz zu werden.